Hoellenengel
der Finger unheimlich war, hatte er ihr die
langersehnte Gelegenheit geliefert, ihre Meinung darüber zu
sagen, dass sie jedes Wochenende in einem verdammten Ferienhaus
hockte, in Gesellschaft eines mordlustigen Katers und eines
kerngesunden Ehemannes, der bedient zu werden verlangte, als
läge er auf dem Sterbebett. »In Reykjavík
läuft man höchstens Gefahr, auf dem Bürgersteig in
Hundekot zu treten, aber hier in der beschissenen Provinz muss man
wohl damit rechnen, dass tote Leute draußen
herumliegen.«
»Þingvellir ist ein heiliger Ort und keine beschissene
Provinz«, sagte Hervar.
»Das einzige >Vellir<, das wir von hier aus sehen, ist
Nesjavellir, nicht Þingvellir«, sagte
Ásdís. »Wir sind hier in Grafningur in
nächster Nähe zu einem potthässlichen Moloch von
Elektrizitätswerk.«
»Was soll denn das, Frau? Du tust gerade so, als wohnten wir
in einer Art Slum«, sagte Hervar. Es nervte ihn immer wieder
aufs Neue, wenn die exakte geografische Lage des Ferienhauses
thematisiert wurde. »Soweit ich weiß, besitzt einer der
reichsten Männer Islands das Ferienhaus hier neben uns. Ich
weiß zwar nicht, was er verdient, aber ich weiß, dass
sein letzter Arbeitgeber ihm eine ganze Milliarde dafür
bezahlte, dass er aufhörte zu arbeiten.«
»Ach ja, gut, dass du das sagst. Willst du nicht
rüberlaufen zu dem Banker und ihn bitten, seine Finger zu
zählen, weil wir auf unserem Grundstück einen Finger zu
viel haben?«, sagte Ásdís.
»Was soll denn dieser Unfug?«, fragte Hervar.
»Wir haben uns doch gestern noch darüber unterhalten,
dass wir niemanden in seinem Haus gesehen haben.«
»Dass wir kein Lebenszeichen im Ferienhaus gesehen
haben«, sagte Ásdís. »Das ist ein
Unterschied.«
»Du glaubst doch wohl nicht ...?«
Ásdís zuckte mit den Schultern. »Was weiß
denn ich?
Sind diese Banker nicht alle in Geschäfte mit Russengold und
der Mafia verwickelt?«
»Dieser nicht«, sagte Hervar.
»Woher willst du denn das wissen?«
»Ich weiß, was ich weiß«, antwortete
Hervar.
»Ist das dein Ernst, dass du nicht verstehst, wovon ich
rede?«, fragte Ásdís.
»Du meckerst schon wieder darüber, dass dieses feine
Sommerhaus, das ich morgen zum doppelten Preis verkaufen
könnte, nicht in Þingvellir ist«, sagte Hervar,
der manchmal kurz davor war, sich der unerträglichen
Aufrichtigkeit seiner Frau zu beugen.
»Hervar«, sagte Ásdís und sah ihn an.
»Jetzt denk doch mal kurz nach. Wie kommt dieser Finger
hierher?« »Du hast gesagt, Glámur hat ihn
hergebracht.«
»Hältst du es für wahrscheinlich, dass der Kater
diesen Finger draußen in der Natur gefunden
hat?«
»Was weiß denn ich?«, fragte Hervar, kurz davor,
eingeschnappt zu sein, weil sein Freund beschuldigt
wurde.
»Hältst du es nicht für wahrscheinlicher, dass er
sich durch irgendeine Ritze ins Ferienhaus hier nebenan gestohlen
und ihn da gefunden hat?«
»Nein, jetzt hör aber mal auf«, sagte Hervar, der
Glámur auf keinen Fall des Einbruchs bezichtigt sehen
wollte.
»Und dir kommt auch nicht in den Sinn, dass wir in Gefahr
sein könnten, wenn im Nachbarhaus zerstückelte Leichen
liegen?«, stieß Ásdís aus. »Der
Kater hat den Finger ja wohl kaum abgebissen. Man muss ihm seinen
Fisch ja schon fast ins Maul stopfen. Ich weiß nicht, was
hier passiert ist, aber ich fahre jetzt in die Stadt. Ich
möchte mich nicht in Stücke schneiden
lassen.«
»Das ist verdammte Nervenschwäche, Mensch«, sagte
Hervar. »Dass du dir aber auch so einen Unsinn einfallen
lässt. Das kommt davon, wenn man so viel Fernsehen
glotzt.«
»Du entscheidest, was du machst«, sagte
Ásdís. »Ich bleibe nicht hier und es wird eine
Weile dauern, bis ich wieder herkomme.«
»Beruhige dich«, sagte Hervar. »Was ist das
für eine Hysterie? Du stellst dich an, als könne man vor
lauter toten Menschen keinen Fuß mehr auf den Boden
setzen.«
»Und was ist das?«, fragte Ásdís und
zeigte auf den Plastikbeutel.
»Das ist nur ein Finger«, sagte Hervar.
»Könnte aus einem Flugzeug gefallen sein. Immer fliegen
irgendwelche Idioten hier über das Gelände.«
»Um Leichen über dem See abzuwerfen?«
»Wie zur Hölle soll ich das wissen? Ich bitte dich,
hör auf, dich so anzustellen, und zieh dir etwas an die
Füße.
Es ist Zeit, dass wir uns mal bei unserem Nachbarn
umsehen.«
»Das ist an und für sich völlig richtig«,
sagte Ásdís und begann, ihre Schuhe zu suchen.
»Er kann ja nicht besonders herrschaftlich wohnen, hat er
sich doch nie
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