Hoellenengel
Tür.
»Warum klopfst du?«, fragte Ásdís.
»Kein lebendiger Mensch kann es bei diesem Gestank da drin
aushalten.«
Hervar gab seiner Frau keine Antwort, beugte sich zu der
zerbrochenen Scheibe herab und rief: »Hallo,
hallo!
Ist da jemand?«
Er versuchte, durch die Öffnung zu spähen, aber es war
schwer, im abgedunkelten Häuschen etwas zu erkennen, wenn man
an die klare Helligkeit draußen gewöhnt war.
Hervar steckte seine Hand hinein und tastete nach dem
Schnappschloss. Öffnete dann die Tür und bedeutete seiner
Frau, einzutreten.
»Bitte sehr«, sagte er. »Willst du dich nicht
umsehen?«
»Lass uns zusammen gehen«, sagte Ásdís,
nahm die Hand ihres Mannes und führte ihn hinter sich
über die Schwelle ins Dämmerlicht des
Häuschens.
Sie hielten inne, als sie den Raum betreten hatten. Hervar blieb
jedoch nicht lange stehen, denn er riss sich von seiner Frau los
und drehte um Richtung Veranda, wo er sich erbrach.
Ásdís stand still, während sich ihre Augen an
das Halbdunkel gewöhnten. Sie war nicht allein im Wohnzimmer.
Ganz langsam wurden drei Männer sichtbar. Zwei von ihnen
saßen wie Skulpturen einander gegenüber an einem
großen Tisch, der dritte stand mittig am Tisch und lehnte
sich an die Wand.
Die Neugier überwog die Angst, also ging Ásdís
näher.
Dass Glámur das morgendliche Geschenk für sie hier
besorgt hatte, war offenkundig, denn der Hand des einen Mannes, der
am Tisch saß, fehlten beide Daumen.
Diese Amputation war aber nicht das schrecklichste an dem Anblick,
denn Ásdís sah, dass große Nägel durch die
Hände und Arme beider Männer getrieben worden waren, um
sie an der Tischplatte zu befestigen. Als sie herunterblickte, sah
sie, dass auch ihre Füße an den Boden genagelt worden
waren.
Der Mann, der an der Mitte des Tisches stand und den Kopf
hängen ließ, lehnte sich nicht an die Wand, wie es ihr
zunächst geschienen hatte er war an die Vertäfelung
genagelt worden.
Ásdís betrachtete dieses Bild wie in Trance. Ihre
Atmung wurde schneller und schneller. Die Gesichter der Männer
waren fürchterlich zugerichtet. Blutflecken waren auf dem
Boden und an den Wänden. Sie wich einen Schritt zurück
und trat auf etwas. Es war der andere Daumen. Ásdís
empfand plötzlich ein starkes Schwindelgefühl, dann wurde
es schwarz vor ihren Augen. Die furchterregenden Bilder
verschwanden im Dunklen und sie sank nieder.
Das Letzte, was ihr durch den Sinn schoss, war: Ich bin noch nie
ohnmächtig geworden. Wahrscheinlich muss ich
sterben.
Zwölf
Anderthalb Stunden später hatte die polizeiliche Untersuchung
begonnen und ein Arzt, der in Abwesenheit der Gerichtsmedizinerin
Þórhildur Magnúsdóttir gerufen worden
war, bestätigte, dass die Männer, die sich im Sommerhaus
befanden, verstorben waren. Es werden immer mehr Formalitäten,
dachte Randver Andrésson, Leiter der Kripo Reykjavík.
Hoffentlich kann ich in Rente gehen, bevor auch die letzten
selbstverständlichen Dinge zu wichtigen Formsachen geworden
sind.
Nachdem Randver sich im Sommerhaus umgesehen und Dagný
Axelsdóttir mit der Aufsicht über den Tatort beauftragt
hatte, ging er zum See hinunter, der an diesem schönen Tag im
Sonnenschein glänzte. Er war schon so lange bei der Polizei,
dass er bereits vor einem knappen Jahr hätte aufhören und
in Frührente gehen können. Aber er hatte sich von
Víkingur, seinem Vorgesetzten und Freund, dazu
überreden lassen, noch mindestens drei Jahre weiterzumachen,
um den vollen Rentenanspruch zu erwerben. Nicht unbedingt, weil ein
paar Kronen mehr oder weniger in Zukunft so viel ausmachten,
sondern weil der Beruf und die Arbeitskollegen eine so große
Rolle in seinem Leben spielten.
Der berufliche Erfolg, der ihm zuteil geworden war, war weit
größer, als er angestrebt hatte. Víkingur hatte
ihn mit sich hochgehievt. Randver selbst wäre als normaler
Streifenpolizist oder sagen wir Oberwachtmeister
genauso glücklich gewesen und wohl ein Leben lang in einer
Uniform zu Fuß zwischen den Bürgern der Stadt unterwegs
gewesen. Wütende Männer besänftigen, Streit in einem
fremden Zuhause schlichten, all diese Alltagsaufgaben, die mit
Besonnenheit und gutem Willen zu lösen waren, ohne dass man
endlos Papiere ausfüllen musste, das empfand Randver als
erstrebenswert. Den Menschen den Weg ebnen und den Frieden
bewahren.
Als er als junger Mann auf der Kreuzung von Miklabraut und
Lönguhlíð gestanden und den Verkehr mit einer
weißen Kelle in der Hand geregelt hatte,
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