Hoellenengel
Gnade zu bitten, die er vormals so
erstrebenswert gefunden hatte. Und dann war er auch wütend auf
Gott, dass er ihm Þórhildur weggenommen hatte
und weil Gott nicht existierte, war er gerade deswegen wütend
auf ihn.
Ansonsten spielte die Existenz Gottes für ihn keine Rolle.
Auch wenn Gott existierte und wenn er Víkingur gnädig
gesonnen wäre, könnte er ihm nicht das Einzige
gewähren, um das er hätte bitten wollen. Er spürte,
wie die Depression vorrückte. Seine Gedanken wehten
unkontrolliert von hier nach da oder wirbelten im perfekten Chaos
umher. Dazwischen legte sich der Sturm und hinterließ ihn in
endloser Stille und Leere, und er hörte Randver nicht, der mit
ihm sprach. Schaute ihn verständnislos an, als wäre er
von einem anderen Stern.
»Du musst etwas essen«, sagte Randver. »Du darfst
nicht aufgeben. Es ist schmerzhaft, aber der Schmerz klingt mit der
Zeit ab. Alles hat ein Ende.«
Randver hatte recht. Alles nimmt ein Ende, und jetzt war sein Leben
zuende. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, war sein Leben aus
der Spur geraten.
Ein junger Mann hatte die Kontrolle über sein Leben verloren
und seine Mutter mit sich in den Tod gerissen, und Víkingur
blieb zurück, saß auf dem Rand des Steilhangs, seelisch
verwundet und körperlich betäubt. »Was ist das
eigentlich, diese schreckliche Sucht?«, fragte er seinen
besten Freund.
Hinrik versuchte zu antworten: »Alkoholismus ist die Art
Abhängigkeit, die am längsten und häufigsten
untersucht worden ist«, sagte er.
»Sie wird definiert als körperliche, seelische und
soziale Krankheit oder Störung. Körperlich ist die
Abhängigkeit, weil sie mit bestimmten chemischen Reaktionen zu
tun hat, seelisch, weil sie zu unseren psychologischen und
psychiatrischen Untersuchungen gehört, und sozial, weil sehr
viele der Meinung sind, dass unsere Gesellschaftsform daran
beteiligt ist, eine Sucht auszulösen.
Ob Abhängigkeit eine Krankheit ist, das ist immer noch ein
Zankapfel der Wissenschaftler. Wenngleich die Definition als
Krankheit Unzähligen zur Genesung verholfen hat, kommt es mehr
und mehr in Mode, das Wort Störung anstelle von Krankheit zu
verwenden.«
»Warum beschäftigen sich Wissenschaftler mit solchen
Wortspielen, während die Sucht die Menschen um sie herum einen
nach dem anderen umbringt?«
Hinrik freute sich, dass Víkingur überhaupt
reagierte.
»Abhängigkeit kann so viele Erscheinungsbilder haben.
Abhängigkeit von irgendwelchen berauschenden Mitteln wie
Alkohol oder Drogen ist allseits bekannt.
Ein Leitsymptom der Sucht ist unkontrolliertes Verhalten. Im Leben
eines Süchtigen wird die Abhängigkeit der Mittelpunkt, um
den sich alles dreht, aber es gibt weit mehr als Abhängigkeit
von bestimmten Substanzen, was Kontrollverlust und zwanghaftes
Verhalten hervorrufen kann. Wenn wir uns umschauen, sehen wir
Menschen, die von Glücksspielsucht, Esssucht, Anorexie,
Bulimie, Abenteuersucht, Kaufsucht, Arbeitssucht, Hypersomnie,
Verschwendungssucht, Sexsucht oder religiösem bzw.
atheistischem Fanatismus geplagt sind. Niemand kann genau
unterscheiden, wo die Störung endet und die Krankheit
beginnt.«
Víkingur schwieg.
»Nicht nur die Wissenschaftler sind hier uneins«, fuhr
Hinrik fort. »Sehr viele Menschen haben ganz falsche
Vorstellungen von Abhängigkeit. Manche glauben, sie sei ein
Zeichen von Willensschwäche oder sogar mangelnder Intelligenz.
Ganz im Gegenteil weist vieles darauf hin, dass Süchtige
sowohl über mehr Willenskraft als auch über mehr
Intelligenz als der Durchschnitt verfügen. Merkwürdig.
Und noch merkwürdiger ist es, dass Sucht wirklich die einzige
Krankheit der Welt ist, die der Patient selbst begreifen muss, um
eine Chance auf Genesung zu haben, obwohl unser Verständnis
von Abhängigkeit ja sehr gering ist. Daraus folgt, dass die
Aussichten auf Genesung ebenfalls gering sind.«
Hinrik sah, dass es Víkingur schwerfiel, aufmerksam
zuzuhören, und entschloss sich deshalb, die Sache direkt
anzusprechen.
»Weißt du«, sagte er, »wo Abhängigkeit
ist, findet man auch eine andere Störung, die fast genauso
schwerwiegend ist. Weißt du, von welcher Störung ich
spreche?«
Víkingur schüttelte den Kopf.
»Co-Abhängigkeit. Was ist das erste Wort, das dir
einfällt, wenn ich Co-Abhängigkeit
sage?«
Eine geraume Zeit verging, ehe Víkingur antwortete:
»Mir fällt nichts Besonderes ein.«
»Denk ein bisschen genauer nach.
Co-Abhängigkeit.
Welches Wort fällt dir als Erstes
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