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Hoellenengel

Hoellenengel

Titel: Hoellenengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thráinn Bertelsson
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Þórhildur verabschieden zu müssen, und die
Vorstellung, von Menschen umgeben zu sein, erfüllte ihn mit
Entsetzen, aber jetzt saß er auf der vordersten Bank in der
Kirche und blickte auf zwei weiße Särge.
    Þórhildur.
    Magnús.
    Er versuchte, seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, und
bemerkte dann, dass er der Einzige in der Kirche war, der noch
stand. Alle anderen hatten sich nach einem Hinweis des Pfarrers
gesetzt, nachdem er aus der Bibel gelesen hatte: Die Könige der
Erde lehnen sich auf, und die Herren ratschlagen miteinander wider
den Herrn und seinen Gesalbten: »Lasset uns zerreißen
ihre Bande und von uns werfen ihre Seile!« Aber der im Himmel
wohnt, lacht ihrer, und der Herr spottet
ihrer.             
    Verstört setzte
er sich, ohne ein einziges Wort verstanden zu haben, und war der
Letzte, der beim nächsten Hinweis wieder aufstand.
    Wahrlich, wahrlich ich sage
euch: Wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben. Ich bin das Brot
des Lebens.
    Eure Väter haben Manna gegessen in der Wüste und sind
gestorben. Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, auf dass, wer
davon isset, nicht sterbe. Ich bin das lebendige Brot, vom Himmel
gekommen. Wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in
Ewigkeit. Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch,
welches ich geben werde für das Leben der Welt. Er konzentrierte sich
darauf, an Þórhildur zu denken, die gegangen war, und
daran, dass sich in den Särgen nur ihre irdischen
Überreste befanden, verlor aber bei den Worten »irdische
Überreste« sofort die Kontrolle über seine
Gedanken, so als wäre das Irdische nur eine Art Restsumme, die
im Vergleich zur fremdartigen Hoheit des Himmels keine Rolle
spielte. Wenn er mit einem Wort hätte ausdrücken
müssen, warum er Þórhildur geliebt hatte,
wäre dem Wort »irdisch« sicher eine Hauptrolle
zugefallen. Sie war irdisch, lebte im Jetzt ­ bis das
Unglück seinen Lauf nahm ­ und schaffte es, alle Dinge zu
umfassen und sie in ihrer weichen Hand zu halten, während
seine Gedanken in den Wolken schweiften und zwischen vergangenen
und kommenden Dingen vor und zurück pendelten, bis
Þórhildur ihn wieder zurück zu sich auf die Erde
zog.
    Irdische Liebe, dachte er. Die irdischen Überreste der Liebe
in einem weißen Sarg. Wie kann die Liebe irdische
Überreste hinterlassen? Dann fiel ihm auf, dass er begonnen
hatte, sich mit sich selbst über die Bedeutung eines Wortes
auseinanderzusetzen, das für ihn keine Bedeutung mehr hatte.
Er war hierhergekommen, um Þórhildur ­ und
Magnús ­ zu verabschieden, Magnús vielleicht zum
letzten Mal. Þórhildur würde er niemals
endgültig verabschieden können.
    Und ganz plötzlich stand er auf dem Friedhof und betrachtete
einen weißen Sarg, der in einem schmalen Grab versank.
Þórhildur liegt in dem Sarg, dachte er voller
Entsetzen. Sie ist nicht tot. Du musst sie retten.
    Alle Augen ruhten auf ihm, und er ging zum Grab und blieb an seinem
Rand stehen.
    Er stand still und hoffte, dass dieser Augenblick nie vergehen
möge. Dann tastete er in seiner Tasche nach einem weißen
Umschlag, beugte sich herab und ließ den Umschlag auf den
Sarg fallen. Zeichnete ein Kreuz in die Luft und entfernte sich vom
Grab.
    In dem Umschlag war ein Gedicht, das er für
Þórhildur geschrieben und ihr am Morgen des ersten
Sommertags als Geschenk gebracht hatte. Sie hatte sich so gefreut,
dass man hätte glauben können, die Welt habe noch nie
derartige Poesie gesehen. Sie hatten sich auf den Sommer gefreut
und beschlossen, endlich die lang geplante Wanderung in
Hornstrandir zu machen, solange die Nächte noch hell
waren.
    Es war das erste Gedicht, das er jemals verfasst hatte, und das
letzte.
    Bei der anschließenden Feier drückte er unzählige
Hände von Menschen, die ihr Beileid bekundeten, auch wenn die
Trauer, die seine Existenz ausfüllte, dem Beileid den Zutritt
zu seinem Herzen verweigerte.
    Randver und Hinrik waren immer in Sicht, wenn er sich umblickte.
Sie beobachteten ihn wie Leibwächter.
    Die Chefsekretärin der Polizei, eine Frau in den Vierzigern,
mit der er eigentlich nie gesprochen hatte, ergriff seine Hand und
sagte: »Mein herzliches Beileid.«
    »Ich danke dir.«
    Die Frau blieb stehen und hielt seine Hand fest, als wolle sie noch
etwas sagen, und fügte dann rasch hinzu: »Ja, und dann
bedaure ich natürlich diesen Fehler, den ich gemacht
habe.«
    Fehler? Welchen Fehler meinte die Frau? Víkingur blickte
Randver fragend an, der

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