Hoellenfeuer
Andere waren fremd und ungewöhnlich. Vieles wirkte, als sei es nicht von der Erde sondern merkwürdigen Träumen entsprungen. Und dennoch strahlte alles hier, jede Schnitzerei und jedes Relief eine einzigartige Harmonie und Ruhe aus, die es Eleanor vergessen ließ, dass sie in diesem unermesslich großen Gebäude offenbar allein war.
Irgendwann bemerkte sie, dass die Räume sich in diesem Punkt keineswegs glichen. Während einige Bereiche des Palastes durch die Formensprache ihrer Architektur lebendig und schön wirkten, waren andere Flügel des Komplexes schlicht und vermittelten den Eindruck von Leere und Einsamkeit, gar Tod. Es war ganz natürlich, dass Eleanor, wann immer ihr auffiel, dass sie in die Nähe solcher Gänge und Räume kam, ihren Weg änderte und wieder zu den schönen Raumfluchten zurück wanderte.
Nach einiger Zeit begann sie sich jedoch zu fragen, ob sie in diesen Bereichen des Palastes richtig war. Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, all diese Formen, Tiere und Pflanzen gesehen zu haben, als sie das letzte Mal an diesem Ort gewesen war. Konnte es sein, dass Nummer Sieben sich in den leeren toten Bereichen des Gebäudes aufhielt?
Eleanor schauderte bei dem Gedanken daran, dort umherlaufen zu müssen.
„Ich hätte nicht geglaubt, dich hier wiederzusehen “, erklang plötzlich eine Stimme hinter ihr.
Eleanor fuhr herum, doch da stand niemand. Ein leises Lachen war zu hören und nun nahm Eleanor eine Bewegung und ein Licht an der Wand wahr. Von dort bewegte sich eine ungewöhnliche Gestalt auf sie zu. Es war ein Wesen von unvergleichlicher Schönheit, ein großer Mann, mit mächtigen Flügeln und dem Gesicht von Nummer Sieben.
Das Wesen legte den Kopf schief und blickte Eleanor an. Dann lächelte es.
„Es muss eine besondere Bewandtnis mit dir haben, da du nun schon das zweite Mal an diesem Ort auftauchst, an dem noch nie zuvor ein Mensch gewesen ist. Und ein Mensch bist du – daran zweifle ich nicht.“
Eleanor nickte zögernd. Dann sprach das Wesen wieder: „Mein Name ist Raphael.“
Der Tote Palast
Es war ganz still in den Kerkern der Festung von Aleppo. Doch Fulk de Charney machte diese Ruhe mehr Angst als das sonst übliche geschäftige Treiben in den Gängen der Festung es gemacht hätte. Die Wachen waren die letzten vier Stunden in unregelmäßigen Abständen hierher in die tiefen Eingeweide der Zitadelle gekommen und hatten die christlichen Gefangenen nacheinander und einzeln aus den Zellen geholt.
Lang war niemand von ihnen hier gewesen. Man schrieb das Jahr des Herrn 1119 und es war erst zwanzig Jahre her, das die Ritter Christi das Heilige Land und die geweihte Stadt Jerusalem den dreckigen Händen der Sarazenen entrissen hatten. Was an diesem fünfzehnten Juli des Jahres 1099 in den Straßen Jerusalems geschehen war, hatte die muslimische Welt bis in ihre Grundfesten erschüttert. Die Ritter des Herrn waren tief in die Gassen und Straßen der Stadt eingedrungen und hatten die Muslime zu Tausenden dahingeschlachtet. Kaum einer war entkommen. Unbeschreibliche Szenen hatten sich in den Häusern und auf den Plätzen der Stadt abgespielt, während die Christen Jagd auf Muslime gemacht hatten. Als am darauf folgenden Morgen die Sonne über der rauchenden Stadt aufging, war kein Heide mehr am Leben und die Kreuzritter ritten hoch zu Ross durch ein Meer von Blut.
Nur eine Handvoll Muslime war entkommen, doch sie hatten die Kunde von dem Massaker in Jerusalem in die islamische Welt hinausgetragen. Die Folge war ein Schock gewesen. Die fremden Krieger aus dem Abendland schienen unbesiegbar und in ihrer Grausamkeit eher Tiere als Menschen zu sein. Man sagte ihnen nach, muslimische Kinder am Spieß zu braten und was sie mit den Frauen anstellten, war beinahe noch schlimmer. Wann immer sich ihnen ein islamisches Heer in den Weg gestellt hatte, was es geschlagen worden. Die Christen waren unüberwindlich, eine Geißel Allahs.
Doch dieses Jahr hatte sich etwas Entscheidendes geändert. Der muslimische Kriegsherr Ilghazi, Herr von Aleppo, hatte sich den christlichen Rittern in Nordsyrien in den Weg gestellt. Und was niemand für möglich gehalten hatte, war ihm gelungen. Er hatte das christliche Heer unter der Führung des Fürsten Roberts von Antiochia geschlagen. Die Verluste unter den christlichen Rittern waren so gewaltig gewesen, dass die Christen den Ort der Schlacht fortan Anger Sanguinis, das Blutfeld, nannten. Wer nicht an Ort und Stelle
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