Hoellenfeuer
das Gefühl des Verlustes so schwer gewesen, als habe man ihr einen Arm ausgerissen.
„Es geht mir gut “, keuchte sie. „Alles in Ordnung.“
Raphael beäugte sie noch einen Moment lang zweifelnd. Dann setzte er sich langsam in Bewegung und durchschritt den Saal, nicht ohne Eleanor dabei im Auge zu behalten und sicherzugehen, dass sie mitkam.
Raphaels Gang war fließend und über alle Maßen schön anzusehen. Man hätte seine Bewegungen elegant nennen können, wenn dieses Wort nicht zu primitiv gewesen wäre. Tatsächlich bewegte er sich so im Einklang mit sich selbst und seiner Umwelt, wie es nur ein Wesen tun kann, dass nichts und niemanden fürchtet, das niemals stolpern könnte und immer weiß, was sich hinter der nächsten Ecke befindet. Es war, als ob die Naturgesetze und die Fährnisse des Lebens für Raphael keine Bewandtnis hatten.
Langsam bewegten sie sich durch die Gänge und Säle des Palastes. Und während sie das taten, schien es Eleanor, als würden die Räume immer prächtiger und schöner. Die Verzierungen, Reliefs und Stuccaturen an den Wänden und Decken wurden immer feiner und detailreicher und schließlich erkannte sie, dass all dies erst in dem Augenblick vor ihren Augen entstand, wenn sie beide einen neuen Raum betraten. Erst dann blühten die steinernen Blumen wie aus dem Nichts auf, während die hölzernen Wandvertäfelungen bekannte und unbekannte Geschöpfe gebaren. Ein atemberaubender Anblick, fremd und verstörend und doch zugleich wunderschön.
Eleanor bemerkte, dass Raphaels Blick von einem Lächeln verklärt war, so als ob auch er die Schönheit dieser Räume und ihre Entstehung heute zum ersten Mal sah.
Nach einer Weile betraten sie einen kleinen, fast unscheinbaren Raum, der auf einer seiner vier Seiten offen war. Dort befand sich ein Balkon, der den Blick auf den Nachthimmel freigab.
Raphael und Eleanor traten auf den Balkon hinaus und blickten sich um. Eleanor konnte sich nicht daran erinnern, auf dem Weg hierher Treppen emporgestiegen zu sein, doch nun standen sie hoch über dem Toten Land und blickten hinab auf die finstere, leere Fläche, sie sich kilometerweit unter ihnen bis zum nächtlichen Horizont erstreckte.
„Was ist das hier für ein Ort, an dem du lebst?“, fragte Eleanor. „Was für ein merkwürdiges Land ist das hier und was für ein gigantischer Palast? Warum lebst du hier in dieser Einsamkeit?“
In diesem Augenblick erwachte Eleanor. Schlagartig fuhr sie im Bett hoch und blieb schwer keuchend sitzen. Sie zitterte und war zunächst desorientiert. Ihr Atem ging stoßweise. Einige minutenlang war sie zu keinem klaren Gedanken fähig.
Dann endlich begriff sie, dass sie seit geraumer Zeit auf den kleinen Wecker starrte, der neben ihrem Bett stand. Er zeigte auf kurz vor Neun. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie großes Glück gehabt hatte. Heute war Sonntag. An jedem anderen Tag wäre sie gegen halb acht von einer Schwester geweckt worden und man hätte ihre Einnahme von Tetradyxol entdeckt. Zumindest dann, wenn sie auch eben wieder die gleichen Symptome im Schlaf gezeigt hätte, wie die Male zuvor. Und ihre körperliche Verfassung ließ das vermuten. Eleanor fühlte sich elend.
Plötzlich nahm sie die Stimmen wahr. Es waren zahlreiche Stimmen die größtenteils durcheinander redeten. Eleanor versuchte durch das Chaos der Stimmen hindurch zu erkennen, worüber gesprochen wurde, doch die Stimmen schienen zu verschiedenen Gesprächen zu gehören. Sie nahmen keine Rücksicht aufeinander und erklangen wirr und unkontrolliert.
Eleanor saß noch immer im Bett und blickte panisch umher. Von wo mochten die Stimmen kommen? Ihr Zimmer war leer, hier befand sich niemand. Sie kamen offenbar auch nicht vom Flur vor ihrer Tür, soweit sich das sagen ließ. Es wirkte vielmehr, als kämen die Stimmen aus weiter Ferne, und doch konnte sie beinahe jedes Wort verstehen, wenn sie die Augen schloss und sich konzentrierte.
Eleanor erschrak. Sie erinnerte sich plötzlich, wie sie nach der ersten Einnahme von Tetradyxol das Nicken von Schwester Emily durch eine geschlossene Tür gehört hatte. Kein Zweifel – dies musste eine der Nebenwirkungen des Schlafmittels sein. Eleanor hörte sämtliche Stimmen im Gebäude. Sie konnte die Gespräche aller Menschen in Stratton Hall wahrnehmen.
Langsam lehnte Eleanor sich zurück und lauschte. Da war die Stimme von Schwester Beatrice. Dort die von Bruder Rowland, dem Gemeindepfarrer, der als Seelsorger oft hier im Sanatorium war.
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