Hoellenfluestern
neue Blusen und Jeans dafür geholt. Nicht ein einziges Mal hatte ihr Gastgeber auf sie hinabgeblickt, weil sie arm waren, sondern hatte sie beide behandelt, als gehörten sie zur Familie.
Damals war es Riley schwergefallen, mit Meister Stewart zu reden, da er ihr so überlebensgroß erschienen war. Wenn sie jetzt zurückblickte, war der Abend etwas ganz Besonderes gewesen, aus einem Grund, mit dem sie nicht gerechnet hätte. Es war ihr letztes Weihnachtsfest mit ihrem Vater gewesen – drei Wochen später war er tot.
Nachdem sie Müller fürs Vorbeibringen gedankt hatte, stieg Riley die Treppe zur breiten Holzveranda empor, den übervollen Rucksack über die Schulter gehängt. Das alte viktorianische Gebäude war in verschiedenen Blautönen gestrichen und sah aus wie ein riesiges Puppenhäuschen. An der Frontseite hatte es sogar ein kleines Türmchen. Als sie auf den Klingelknopf drückte, ertönte im Inneren des Hauses ein melodisches Läuten. Es dauerte eine Weile, bis die Tür geöffnet wurde, weil Stewart mit seinem verkrüppelten Bein nicht schnell vorankam.
»Riley«, sagte er und winkte sie herein.
Sie winkte dem Jäger zum Abschied zu und betrat ihr neues Zuhause.
Im Inneren roch es angenehm nach aromatischem Pfeifentabak und ganz leicht nach der letzten Mahlzeit. Roastbeef, glaubte sie. Jetzt, wo sie hier war, erinnerte sie sich wieder deutlicher an das Haus. Anders als bei Mort bedeckten keine Bilder die Wände, sondern lediglich eine großflächige Tapete mit blauem Blumenmuster. Der untere Teil der Wand war mit dunkler Eiche vertäfelt, und der Fußboden knackte bei jedem Schritt. Auch das zeichnete dieses Haus aus – es hatte eine eigene Persönlichkeit, genau wie sein Besitzer.
»Du weißt, was der Vatikan von dir verlangt?«, fragte er.
»Ja. Ich soll mich von Schwierigkeiten fernhalten. Und hierbleiben, bis sie mir sagen, dass ich gehen kann.«
»Das trifft es ganz gut.«
Ungeduldig platzte sie heraus: »Was hat Peter über das Weihwasser herausgefunden?«
»Alles zu seiner Zeit«, sagte ihr Gastgeber und deutete den Korridor entlang. »Es gibt Wichtigeres, um das wir uns zuerst kümmern müssen. Harper.«
Meister Harper war bei Stewart eingezogen, nachdem sein Haus zerstört worden war, zumindest so lange, bis er einen neuen Platz zum Wohnen gefunden hatte.
»Wie viel weiß er?«, fragte sie.
»Alles, was du mir erzählt hast.«
»Alles?«, keuchte sie. Ori? Luzifer? Der Weltuntergang?
»Alles.«
»O Gott. Dann bin ich echt angeschissen.«
»Das kriegen wir schon hin«, sagte Stewart und scheuchte sie weiter.
Das würde genauso heftig werden wie die Begegnung mit den Jägern. Doch zumindest würde Harper in Stewarts Gegenwart keine blauen Flecken auf ihr hinterlassen wie in der Vergangenheit.
Ihr Gastgeber führte Riley in einen Raum, der mindestens so groß war wie ihre gesamte Wohnung. Sie erinnerte sich daran vom letzten Weihnachtsfest. Es gab einen großen Kamin mit einer schottischen Flagge darüber, Familienfotos an den Wänden und bequeme Polstersessel.
Ein unleidlicher Meister Harper saß in einem dieser Sessel und starrte sie finster an. Wahrscheinlich war er Anfang fünfzig. Die lange Narbe in der einen Gesichtshälfte war angespannt, als hätte er immer noch Schmerzen, aber er hatte mehr Farbe als beim letzten Mal, als sie ihn gesehen hatte. Damals hatte er heftige Schmerzen gehabt und war in den Überresten der Autowerkstatt herumgehumpelt, die er zu seiner Wohnung gemacht hatte, und hatte versucht, seine Habseligkeiten zu retten, nachdem der Dämon fünften Grades sein Projekt »Haus-Zerstörung« erfolgreich beendet hatte.
»Setz dich dorthin«, sagte Stewart und deutete auf einen Sessel neben dem Kamin, wo sie zwischen den beiden Meistern sitzen würde. Nach Wärme lechzend ließ Riley sich hineinsinken. Die Hitze, die nach der Begegnung mit Ori durch ihre Adern geflossen war, war verschwunden und durch eine Kälte ersetzt worden, die sie kaum ertragen konnte. Sie wünschte, sie hätte etwas Wärmeres angezogen, zum Beispiel ihren neuen Kapuzenpullover.
Stewart schenkte ihr ein Glas Wasser aus einem Krug ein und reichte es ihr, ohne sich die Mühe zu machen, sie zu fragen, ob sie etwas trinken wolle. Dann setzte er sich in seinen eigenen Sessel und legte sein Bein auf eine Ottomane.
Riley hob den Kopf und sah Meister Harper an. Sein Blick war auf sie geheftet. Sie wappnete sich gegen den bevorstehenden Anpfiff.
»Erzähl!«, befahl er.
Sein knappes Kommando
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