Höllenflut
oder, wenn es sich
um Gäste aus dem Westen handelte, mit vergoldetem Besteck
speisen. Die Gäste ließen sich auch nicht, wie im Westen üblich,
an einer langen Tafel nieder, an deren Kopfende der Gastgeber
thront, sondern saßen um einen riesigen runden Tisch. An der
einen Seite befand sich ein schmaler Durchgang, so daß die
hinreißend grazilen Chinesinnen, die bezaubernde enge
Seidenkleider mit schenkelhohen Schlitzen trugen, die zahllosen
Gerichte von innen auftischen konnten. Qin Shang hielt dies für
weitaus praktischer als die althergebrachte europäische Art.
Wenn alle Platz genommen hatten, erfolgte Qin Shangs
Auftritt, der sich mittels eines im Boden eingelassenen Aufzugs
zu seinen Gästen gesellte. Er trug für gewöhnlich die kostbaren
Seidengewänder eines Mandarins und saß auf einem alten
Thron, der rund fünf Zentimeter höher war als die übrigen
Stühle. Ohne Rücksicht auf Rang und Herkunft benahm er sich,
als wäre jedes Mahl ein feierliches Zeremoniell, dem er als
Kaiser beiwohnte.
Selbstverständlich genossen die hohen Gäste diese
Mahlzeiten, die eher an einen sorgsam inszenierten Festakt
erinnerten. Anschließend wurden sie von Qin Shang in einen
nicht minder prachtvollen Kinosaal geleitet, wo man ihnen die
neuesten Spielfilme vorführte, die aus aller Welt eingeflogen
wurden. Sie saßen in weichen Samtsesseln und trugen
Kopfhörer, über die sie die Dialoge in ihrer jeweiligen
Muttersprache hörten. Kurz vor Mitternacht wurde schließlich
ein kaltes Büfett aufgetragen, worauf die Gäste sich selbst
überlassen blieben, während Qin Shang sich mit einem oder
zwei Auserwählten in seine Privatgemächer zurückzog, um
neueste Entwicklungen auf dem Weltmarkt zu besprechen oder
Geschäfte auszuhandeln.
An diesem Abend hatte er Zhu Kwan zu sich gebeten, einen
siebzig Jahre alten Gelehrten, der als der beste Historiker von
ganz China galt. Zhu Kwan war klein, hatte schmale, braune
Augen mit schweren Lidern und lächelte stets. Er nahm auf
einem weich gepolsterten, mit Löwenmotiven verzierten
Holzstuhl Platz und ließ sich eine kleine, aus der Zeit der MingDynastie stammende Porzellanschale mit Pfirsichlikör reichen.
Quin Shang lächelte. »Ich möchte mich für Ihr Kommen
bedanken, Zhu Kwan.«
»Ich bedanke mich für die Einladung«, erwiderte Zhu Kwan
gewandt. »Es ist mir eine große Ehre, als Gast in Ihrem
prachtvollen Hause weilen zu dürfen.«
»Sie sind die größte Kapazität auf dem Gebiet der
chinesischen Geschichte und Kultur. Ich habe Sie hergebeten,
weil ich mit Ihnen über ein Unternehmen sprechen möchte, das
möglicherweise für uns beide von Nutzen ist.«
»Ich nehme an, daß ich Nachforschungen für Sie anstellen
soll.«
Qin Shang nickte. »In der Tat.«
»Womit kann ich Ihnen zu Diensten sein?«
»Haben Sie meine Schätze genauer in Augenschein
genommen?«
»Ganz gewiß«, antwortete Zhu Kwan. »Für einen Historiker
ist es stets eine besondere Freude, wenn er die größten
Kunstwerke seines Landes mit eigenen Augen betrachten kann.
Ich wußte nicht, daß so viele kostbare Stücke aus unserer
Vergangenheit erhalten sind. Ich dachte, viele davon seien für
immer verschollen. Das prachtvolle, aus der Chou-Dynastie
stammende Räuchergefäß aus Bronze mit Gold- und
Edelsteinintarsien zum Beispiel oder der lebensgroße
Streitwagen samt Fahrer und vier Pferden aus der Han-Dynastie,
ebenfalls aus Bronze -«
»Fälschungen, Imitationen«, versetzte Qin Shang ungehalten.
»All diese vermeintlichen Meisterwerke unserer Vorfahren
wurden anhand von Fotografien der Originale kopiert.«
Zhu Kwan war sowohl erstaunt als auch betroffen. »Sie
wirken so echt, daß sogar ich mich habe täuschen lassen.«
»Nicht, wenn Sie sie in Ihrem Labor hätten untersuchen
können.«
»Ihre Kunsthandwerker müssen über außerordentliche
Fertigkeiten verfügen. Sie sind nicht minder geschickt als ihre
Vorgänger vor tausend Jahren. Auf dem heutigen Weltmarkt
müssen die von Ihnen in Auftrag gegebenen Werke ein
Vermögen wert sein.«
Qin Shang ließ sich gegenüber Zhu Kwan auf einem Stuhl
nieder. »Wohl wahr, aber Imitationen sind nicht so unschätzbar
wertvoll wie die Originale. Um so mehr freut es mich, daß Sie
meine Einladung angenommen haben. Ich möchte, daß Sie all
die Kunstschätze auflisten, deren Existenz bis 1948 verbürgt ist,
die aber seither verschwunden sind.«
Zhu Kwan musterte ihn ruhigen Blickes. »Sind Sie bereit, für
diese Liste viel
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