Höllenflut
Luftkissenfahrzeug
war an einem kleinen, auf leeren Ölfässern schwimmenden
Bootssteg vertäut. Niemand war an Bord.
»Rudere ganz langsam auf das andere Ufer zu«, flüsterte Pitt.
»Beweg dich so wenig wie möglich.«
Giordino nickte schweigend, tauchte sein Ruder vorsichtig ins
Wasser und zog es wie in Zeitlupe durch. Gespenstern gleich
glitten sie durch die Nacht, hielten sich stets im Schatten entlang
des Ufers, während sie lautlos an dem Kommandoposten
vorbeiruderten. Entdecken durfte man sie auf keinen Fall, denn
da das Schiff ohnehin schon schwer beladen war, hatten sie, um
Platz und Gewicht zu sparen, ihre Waffen nicht mitgenommen.
Etwa hundert Meter weiter ordnete Pitt eine Verschnaufpause
an, »Verglichen mit den Sicherheitsvorkehrungen, die ich am
Orion Lake erlebt habe«, sagte Pitt, »sind die hier ziemlich
schludrig. Sie haben zwar Sensoren und Bewegungsmelder, aber
anscheinend denkt keiner dran, sie auch zu überwachen.«
»Heute nachmittag haben sie uns aber verdammt schnell
erwischt«, erinnerte ihn Giordino.
»Ein drei Meter hohes Hausboot ist in diesem flachen
Grasland nicht schwer auszumachen. Das sieht man aus zehn
Kilometern Entfernung. Am Orion Lake hätten sie uns, gleich
nachdem wir in den Kahn gestiegen sind, auf Schritt und Tritt
überwacht. Hier paddeln wir mir nichts, dir nichts, an ihrer Nase
vorbei.«
»Allmählich kommt mir das vor wie Weihnachten«,
entgegnete Giordino. »Kein einziges Geschenk mit finsteren
Geheimnissen unter dem Baum. Aber irgendwie muß man sie
gern haben, weil sie uns freie Fahrt gewähren.«
»Machen wir weiter«, sagte Pitt. »Hier gibt's nichts zu sehen.
Wir haben noch eine lange Strecke vor uns. Bei Nacht mögen
die Sicherheitsvorkehrungen zwar lax sein, aber wenn wir bis
Sonnenaufgang nicht wieder beim Shantyboot sind, entdecken
sie uns garantiert. Die sind ja nicht blind.«
Sie faßten frischen Mut, nachdem sie sich davon überzeugt
hatten, daß übertriebene Vorsicht nicht geboten war, und
ruderten mit weitausholenden Schlägen durch den Kanal. Das
Licht der fahlen Mondsichel spiegelte sich in einem langen,
schmalen Silberstreif auf dem Bayou. Das Ende des Kanals
schien unendlich weit entfernt zu sein, so unerreichbar wie eine
Fata Morgana. Giordino zog sein Ruder scheinbar mühelos mit
voller Kraft durch, Pitt hingegen tat sich schwerer. Die Luft war
mild, aber sehr feucht. Sie schwitzten in ihren Tauchanzügen
wie ein Finne in der Sauna, trauten sich aber nicht, sie
auszuziehen. Ihre Haut war trotz aller Sonnenbrände so hell, daß
sie selbst im schwachen Licht des abnehmenden Mondes sofort
aufgefallen wären. Vor sich sahen sie Wolken, deren Umrisse
sich im Schein einer unsichtbaren Lichtquelle abzeichneten.
Außerdem Autoscheinwerfer, die in der Ferne vorbeihuschten.
Offenbar war dort ein Highway.
An beiden Ufern ragten jetzt die Häuser der Geisterstadt
Calzas auf, durch deren Mitte man den Kanal gestochen hatte.
Dichtgedrängt standen die Gebäude auf einer leichten Anhöhe
über dem umliegenden Sumpf land. Ein unheimlicher Anblick,
als wären sie von den einstigen Bewohnern, die nicht mehr
zurückkehren konnten, verwunschen worden. Dunkel und
verlassen lag das alte Hotel der Stadt da, gegenüber eine
Tankstelle, die vollständig erhalten war, samt Kassenhäuschen,
Reparaturbox und Zapfsäulen. Eine einsame Kirche ragte
inmitten eines Friedhofes auf, dessen steinerne Gräber, auf
Podesten über der Erde errichtet, weiß und verwittert waren.
Bald darauf lag die verlassene Stadt hinter ihnen.
Und dann, mit einemmal, ging es nicht mehr weiter. Der
Kanal endete an einer Böschung, die hinauf zum Highway
führte. An ihrem Fuß entdeckten sie eine Betonkonstruktion, die
aussah wie der Zugang zu einem großen unterirdischen Bunker.
Der Eingang war durch eine massive Stahltür verschlossen, die
rundum zugeschweißt war.
»Was die da drin wohl aufbewahren?« fragte Giordino.
»Jedenfalls nichts, an das sie schnell rankommen müssen«,
erwiderte Pitt, während er die Tür mit dem Nachtsichtgerät
musterte. »Dauert mindestens eine Stunde, bis die
aufgeschweißt ist.« Dann entdeckte er ein Stromkabel, das aus
der Tür führte und im schlammigen Wasser des Kanals
verschwand. Er nahm das Nachtsichtgerät ab und deutete zum
Ufer. »Komm, wir ziehen den Kahn an Land und klettern hinauf
zur Straße.«
Giordino warf einen nachdenklichen Blick nach oben und
nickte. Sie ruderten ans Ufer und zogen das Schiff an Land.
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