Höllenflut
Die
Böschung war langgezogen, aber nicht steil. Oben angelangt,
stiegen sie über eine Leitplanke und wurden fast
zurückgeschleudert, als ein riesiger Lastwagen mit Aufleger an
ihnen vorüberdonnerte. Ringsum erstreckte sich ein Lichtermeer
im fahlen Schein der Mondsichel.
Mit diesem Anblick hatten sie nicht gerechnet. Auf der weiten
Wasserfläche vor ihnen spiegelten sich die Lichter der
vorbeifahrenden Autos. Während sie noch dastanden, schob ein
mächtiger, haushoher Flußschlepper mindestens zwanzig
aneinandergekoppelte Lastkähne vorbei - ein Schleppzug, der
gut und gerne vierhundert Meter lang war. Am anderen Ufer lag
eine große Stadt. Oberhalb und unterhalb davon sahen sie die
taghell angestrahlten weißen Tanks der Ölraffinerien und
petrochemischen Betriebe.
»Tja«, sagte Giordino mehr oder weniger ungerührt, »sollten
wir jetzt nicht ›Old Man River‹ anstimmen?«
»Der Mississippi«, murmelte Pitt. »Da droben im Norden, auf
der anderen Seite des Flusses, liegt Baton Rouge. Das ist der
Endpunkt. Warum sticht man ausgerechnet bis hierher einen
Kanal?«
»Weiß der Geier, was in Qin Shangs Oberstübchen vorgeht«,
versetzte Giordino gelassen, »Vielleicht will er einen Anschluß
zum Highway bauen.«
»Wozu? Hier gibt's keine Auffahrt, und das Bankett ist kaum
breit genug für einen Wagen, Es muß einen anderen Grund
geben.« Pitt setzte sich auf die Leitplanke und blickte
nachdenklich auf den Fluß. »Der Highway verläuft hier
schnurgerade«, sagte er schließlich.
Giordino schaute Pitt mit hochgezogenen Augenbrauen an,
»Was soll denn an einer geraden Straße so besonders sein?«
»Ist es ein Zufall, oder war es so geplant, daß der Kanal genau
an der Stelle endet, an der der Fluß nach Westen abknickt und
unmittelbar am Highway vorbeiführt?«
»Spielt denn das eine Rolle? Shangs Ingenieure hätten den
Kanal sonstwo enden lassen können.«
»Es spielt eine große Rolle, wie mir allmählich klar wird.
Eine sehr große Rolle sogar.«
Giordino wußte immer noch nicht, worauf Pitt anspielte. Er
nutzte das Licht eines näher kommenden Autos und warf einen
kurzen Blick auf seine Uhr. »Wenn wir fertig werden wollen,
solange es dunkel ist, schlage ich vor, wir legen uns in die
Riemen und rudern flugs stromab.«
Noch mußten sie den knapp dreißig Kilometer langen Kanal
mit ihrem Tauchroboter absuchen. Sobald sie die Böschung
hinabgeklettert und wieder bei ihrem Kahn waren, holten sie das
AUV aus seiner Kiste, ließen es über die Bordwand zu Wasser
und sahen zu, wie es in den dunklen Fluten verschwand.
Während Giordino ruderte, schaltete Pitt per Fernsteuerung den
Antrieb und die Lampen des AUV ein und hielt den
Tauchroboter etwa anderthalb Meter über dem Grund des
Kanals. Tiefer wollte er nicht gehen, denn das brackige Wasser
war so veralgt und schlammig, daß die Sicht kaum zwei Meter
betrug, zu wenig, um einem unverhofften Hindernis rechtzeitig
auszuweichen.
Giordino ruderte mit gleichmäßigen, weitausholenden
Schlägen, ohne auch nur einmal langsamer zu werden, so daß
Pitt das AUV mühelos neben dem Schiff hersteuern konnte. Erst
als sie die Lichter der Plantage sahen, die Qin Shangs
Sicherheitsdienst als Stützpunkt diente, steuerten sie vorsichtig
das andere Ufer an und bewegten sich nur mehr im
Schneckentempo vorwärts.
Zu so später Stunde hätte der Großteil der Wachmannschaft
eigentlich schlafen müssen. Aber das Gegenteil war der Fall. Pitt
und Giordino duckten sich im Schatten, als sie sahen, daß
etliche Uniformierte aufgeregt zu dem kleinen Bootsanleger
stürmten, an dem das Luftkissenfahrzeug vertäut war, und
automatische Waffen an Bord verstauten. Zwei Männer hievten
einen länglichen und offenbar ziemlich schweren Gegenstand in
das Hovercraft.
»Die fahren ja schweres Geschütz auf«, sagte Giordino leise.
»Wenn ich mich nicht irre, ist das ein Raketenwerfer.«
»Du irrst dich nicht«, murmelte Pitt. »Ich glaube, der Chef
von Qin Shangs Sicherheitsdienst in Hongkong hat uns erkannt
und seinen Leuten hier Bescheid gegeben, daß wir Bösewichter
sind, die vermutlich eins von seinen ekelhaften Projekten
ausspionieren.«
»Das Shantyboot. Offensichtlich wollen sie es mitsamt den
Insassen zu Kleinholz machen.«
»Die Höflichkeit gebietet, daß wir das Eigentum von Bayou
Kid schützen. Außerdem müssen wir an Romberg denken. Der
Tierschutzverein setzt uns vermutlich lebenslänglich auf die
schwarze Liste, wenn wir zulassen, daß
Weitere Kostenlose Bücher