Höllenflut
das ist mir
zu weit hergeholt. Ein separates Frachtabteil, das unter Wasser
von China aus über den Pazifischen Ozean und das Karibische
Meer nach Louisiana gebracht, dort unter einen Schleppkahn
verladen und flußaufwärts zu einer stillgelegten Zuckerraffinerie
transportiert wird? Dafür kriegen Sie vielleicht einen
Literaturpreis, aber kein logisch denkender Mann kauft Ihnen
das ab.«
»Ich bin fest davon überzeugt«, versetzte Julia.
»Darf ich fragen, was Sie vorhaben?« Stowe klang jetzt eher
förmlich als freundlich.
»Ich habe vor, in die Fabrik einzudringen und sie zu
durchsuchen.«
»Halte ich nicht für klug. Warten Sie lieber bis morgen früh.«
»Dann könnte es zu spät sein. Bis dahin hat man die
Immigranten vielleicht schon in Güterwaggons verladen und
abtransportiert.«
»Ms. Lee«, erwiderte Stowe kühl. »Ich rate Ihnen dringend,
sich die Sache noch einmal zu überlegen und den Rückzug
anzutreten. Ich komme mit der Barkasse rüber zum Kahn und
hole Sie ab.«
Julia dachte nicht daran, jetzt aufzugeben - nicht nachdem sie
so weit gekommen war. »Nein. Vielen Dank, Lieutenant Stowe,
aber ich werde da reingehen. Wenn ich gefunden habe, was ich
dort vorzufinden hoffe, dürfen Sie und Ihre Männer mich
herausholen.«
»Ms. Lee, Sie stehen zwar unter dem Schutz der
Küstenwache, aber ich muß Sie dennoch daran erinnern, daß wir
kein polizeiliches Einsatzkommando sind. Ich schlage vor, daß
Sie bis Tagesanbruch warten, sich beim Bezirksrichter einen
Durchsuchungsbefehl besorgen und den hiesigen Sheriff
herschicken. Damit kommen Sie bei Ihren Vorgesetzten
garantiert besser an.«
Julia tat, als habe sie ihn nicht gehört. »Sagen Sie bitte
Captain Lewis Bescheid, daß er Peter Harper in Washington und
das INS-Büro in New Orleans verständigen soll. Gute Nacht,
Lieutenant Stowe. Wir können morgen gemeinsam zu Mittag
essen.«
Stowe versuchte Julia etliche Male zu erreichen, aber sie hatte
ihr Funkgerät ausgeschaltet. Er blickte mit dem Nachtsichtgerät
über den Bayou und sah, wie sie vom Kahn sprang, den Kai
entlangrannte und unter einer mächtigen, moosbehangenen
Eiche unmittelbar vor dem Maschendrahtzaun verschwand.
Julia blieb stehen, sobald sie bei der Eiche war, und versteckte
sich ein paar Minuten lang unter dem Moos, das von den Ästen
herabhing. Langsam ließ sie den Blick über die scheinbar
verlassenen Gebäude der Zuckerraffinerie schweifen.
Nirgendwo ein Licht, nicht der kleinste Strahl fiel durch die
rissigen und verwitterten Türen und Fenster nach draußen. So
angestrengt sie auch lauschte, sie hörte nur das schrille Zirpen
der Zikaden, ein Zeichen dafür, daß der Sommer vor der Tür
stand. Die Luft war schwül und stickig, und keinerlei Lüftchen
kühlte ihr die schweißnasse Haut.
Das Hauptgebäude der Fabrik war stattliche drei Stockwerke
hoch. Der Bauherr hatte sich offenbar von mittelalterlichen
Burgen anregen lassen. Zinnen säumten das Dach, und an allen
vier Ecken ragten Türme auf, in denen sich einst die Büros der
Firma befunden hatten. Die Fenster hatten vielleicht für
genügend Licht gesorgt, aber die Männer und Frauen, die einst
hinter diesen Mauern gearbeitet hatten, mußten furchtbar unter
der stickigen Luft gelitten haben. Die roten Ziegel sahen so aus,
als hätten sie der Feuchtigkeit lange getrotzt, doch gegen das
grüne Moos und die Kletterranken, die an dem Gemäuer
emporwucherten, sich in den Ritzen festsetzten und den Mörtel
sprengten, waren sie nicht gefeit. Etliche Mauersteine waren
bereits herausgebrochen. Die Fabrik, in der einst reges Treiben
geherrscht hatte, in der viele Menschen in Lohn und Brot
gestanden hatten, wirkte so trostlos, als warte sie nur noch auf
die Abrißbirne.
Julia rückte im Schatten der Bäume und Sträucher, die entlang
des Zaunes wuchsen, weiter vor, bis sie auf die Bahngleise stieß.
Sie führten durch ein Tor, das mit einem schweren
Vorhängeschloss gesichert war, und verschwanden dann in
einem Tunnel unter dem Lagerhaus. Sie bückte sich und
musterte im Licht einer in der Nähe stehenden Laterne die
Gleise. Sie waren blank und ohne Rost. Allmählich war sie
immer mehr davon überzeugt, daß sie auf der richtigen Spur
war.
Sie setzte ihre Erkundung fort. Geschmeidig wie eine Katze
huschte sie durch das Gebüsch, bis sie auf ein Abflußrohr stieß,
das gut einen halben Meter durchmaß und von einem
Wassergraben aus unter dem Zaun hindurchführte. Sie blickte
sich kurz um,
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