Höllenflut
Kilometer oberhalb von Patterson wurde der
Schlepper langsamer und hielt auf das westliche Ufer zu. Julia
spähte über die Bordwand des Lastkahns und sah einen
Ziegelbau, eine Art Lagerhaus, und mehrere Nebengebäude, die
hinter einem langen Kai standen. Ein hoher Maschendrahtzaun
mit Stacheldrahtkrone umgab die Anlage. Ein paar Scheinwerfer
mit trüben, eingestaubten Glühbirnen warfen ein fahles,
schummriges Licht auf die Freifläche zwischen Kai und
Lagerhaus. Bis auf einen Wachmann, der aus einer kleinen
Hütte kam und an einem verschlossenen Tor am Ende des Kais
stehenblieb, war keine Menschenseele zu sehen. Sie stellte fest,
daß er eine gewöhnliche Uniform trug, wie man sie bei jedem
privaten Wachschutzdienst käuflich erwerben konnte. Hinter
dem Fenster der Hütte flimmerte ein Fernsehgerät.
Ihr Herz schlug einen Takt schneller, als sie zwei
Eisenbahngleise sah, die in einem Betontunnel verschwanden
und offenbar in den Keller des großen Lagerhauses führten. Sie
war sich jetzt so gut wie sicher, daß sie die Sammelstelle
entdeckt hatte, von der aus die Illegalen zu ihren im voraus
festgelegten Zielorten gebracht wurden. In die großen Städte vor
allem, wo sie mühelos untertauchen konnten, sei es in Freiheit
oder als Fronarbeiter.
Sie verbarg sich unter den Müllsäcken, als die chinesische
Besatzung an Bord des Lastkahns kam und ihn am Kai vertäute.
Sobald er sicher befestigt war, sprangen sie wieder auf den
Schlepper. Weder der Kapitän noch die Mannschaft wechselten
ein Wort mit dem Wachmann am Tor. Der Kapitän betätigte
kurz das Signalhorn, als ein kleiner Krabbenkutter vorbeifuhr,
dann legte der Schlepper rückwärts von dem Lastkahn ab und
wendete in weitem Bogen, bis der stumpfe Bug flußabwärts
gerichtet war. Daraufhin legte der Kapitän den Vorwärtsgang
ein, gab Gas und nahm wieder Kurs auf Sungari.
In den nächsten zwanzig Minuten herrschte eine seltsame
Stille, die Julia immer unheimlicher wurde. Nicht weil sie es mit
der Angst zu tun bekam, sondern weil sie fürchtete, daß sie
möglicherweise einen Fehler begangen haben könnte. Der
Wachmann war längst zu seiner Hütte zurückgekehrt und saß
wieder vor dem Fernseher. Der Lastkahn mit den Müllsäcken
lag am Kai, ohne daß sich jemand darum kümmerte.
Kurz nachdem sie auf den Schlepper gesprungen war, hatte
sich Julia bei Captain Lewis gemeldet und ihn von ihrem
tollkühnen Vorhaben unterrichtet. Lewis war alles andere als
begeistert gewesen. Ihm war sofort klar geworden, daß die Frau,
für deren Sicherheit er verantwortlich war, ein großes Risiko
einging. Doch er hatte seinen Unmut unterdrückt und die
entsprechenden Hilfsmaßnahmen eingeleitet. Auf seinen Befehl
hin hatte Lieutenant Stowe mit einer Barkasse voller
bewaffneter Männer die Verfolgung des Schleppzugs
aufgenommen. Er sollte notfalls den Hubschrauber unterstützen,
dabei aber stets sicheren Abstand zu dem Schlepper wahren,
damit an Bord niemand Verdacht schöpfte.
Julia konnte das Heulen der Turbinen hören, und sie sah auch
die Positionslichter des Hubschraubers am nächtlichen Himmel.
Sie wußte genau, welches Schicksal sie erwartete, wenn sie Qin
Shangs Menschenschleppern in die Hände fiel. Um so tröstlicher
war es zu wissen, daß Männer über sie wachten, die bereit
waren, ihr Leben für sie einzusetzen, falls es zum Schlimmsten
kommen sollte.
Lin Wan Chus Kleidung hatte sie längst abgelegt und in einen
Müllsack gestopft. Nicht etwa, weil sie ihr nicht paßte, sondern
weil die weißen Sachen zu auffällig waren. Man hätte sie vom
Schlepper aus zu leicht erkennen können, wenn sie über die
Bordwand spähte. Jetzt trug sie schlichte Shorts und eine Bluse,
die sie darunter angehabt hatte.
Zum erstenmal seit über einer Stunde sprach sie wieder in ihr
kleines Funkgerät und rief Lieutenant Stowe an. »Der Schlepper
hat den Lastkahn abgesetzt. Er liegt jetzt an einem Kai vor einer
Art großem Lagerhaus.«
Lieutenant Stowe, der einen mobilen Sender mit Kopfhörer
und Mikrofon aufhatte, meldete sich sofort zurück. »Wir
bestätigen. Schlepper passiert uns gerade in Gegenrichtung. Wie
sieht's bei Ihnen aus?«
»Etwa so aufregend, wie wenn man einem Baum beim
Versteinern zuguckt. Bis auf einen Wachmann, der hinter einem
hohen Zaun in seiner Hütte vor dem Fernseher sitzt, ist hier weit
und breit keine Menschenseele.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Ihr Unternehmen ein Reinfall
ist?« fragte Stowe.
»Ich brauche
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