Höllenflut
mehr Zeit. Ich muß mich umsehen«, antwortete
Julia.
»Nicht zu lange, hoffe ich. Captain Lewis ist kein besonders
geduldiger Typ, und der Helikopter kann allenfalls noch eine
Stunde in der Luft bleiben. Dann ist der Sprit alle. Und das ist
noch längst nicht alles.«
»Was gibt's sonst noch?«
»Ihr Entschluß, auf den Schlepper zu springen, kam so
überraschend, daß weder meine Männer noch ich zu Abend
gegessen haben!«
»Sie scherzen.«
»Niemals! Nicht, wenn es um hungrige junge Männer der
Küstenwache geht, die eine Mahlzeit verpaßt haben«, versetzte
Stowe frotzelnd.
»Aber Sie werden mich doch nicht allein lassen?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Stowe, der sofort wieder ernst
wurde. »Ich hoffe nur, daß der Schlepper den Kahn nicht bloß
über Nacht abgestellt hat und ihn morgen früh zu einer
Müllkippe bugsiert.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Julia. »Eins der Gebäude
verfügt über einen Gleisanschluß. Diese Anlage hier ist wie
geschaffen für den Weitertransport eingeschleuster
Immigranten.«
»Ich kann ja Captain Lewis bitten, daß er sich bei der
Eisenbahngesellschaft erkundigt, ob Güterzüge hier
haltmachen«, bot Stowe ihr an. »Unterdessen fahre ich mit der
Barkasse in eine kleine Bucht auf der anderen Seite des Bayou,
etwa hundert Meter südlich von Ihnen. Wir halten uns dort bis
auf weiteres bereit.« Er schwieg einen Moment. »Ms. Lee.«
»Ja.«
»Machen Sie sich keine zu großen Hoffnungen«, sagte Stowe
ruhig. »Ich habe soeben ein halb verfallenes Schild am Ufer des
Bayou entdeckt. Wollen Sie wissen, was darauf steht?«
»Ja, verraten Sie's mir«, antwortete Julia, die sich jeden
gereizten Unterton verkniff.
»›Felix Barthplomeaux - Erste Rohrzuckerraffinerie.
Gegründet i883‹. Der Kahn ist offenbar vor einer seit langem
stillgelegten Zuckerfabrik vertäut. Soweit ich das von hier aus
erkennen kann, ist die Anlage so tot wie ein versteinertes
Dinosaurierei.«
»Und warum wird sie dann bewacht?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Stowe.
»Moment mal!« versetzte Julia plötzlich. »Ich habe was
gehört.«
Sie verstummte und lauschte gespannt, und auch Stowe stellte
keine weiteren Fragen. Irgendwo, wie aus weiter Ferne, hörte sie
Metall scheppern. Zuerst dachte sie, das Geräusch käme aus der
verlassenen Raffinierte, doch dann wurde ihr klar, daß es vom
Wasser unter dem Kahn gedämpft wurde. Wie entfesselt warf
sie die Müllsäcke beiseite, bis sie sich einen Gang zum Boden
des Kahns gewühlt hatte. Dann legte sie das Ohr an das feuchte,
rostige Metall.
Diesmal hörte sie gedämpfte Stimmen, Schwingungen eher,
die sich auf den stählernen Kiel übertrugen. Sie verstand die
Worte nicht, aber es klang nach barschen Männerrufen. Julia
kletterte wieder nach oben, überzeugte sich davon, daß der
Wachmann noch vor dem Fernseher saß, beugte sich dann über
die Bordwand des Lastkahns und spähte ins Wasser. Es war zu
dunkel, als daß sie etwas hätte erkennen können, aber
verräterische Lichter sah sie da unten nicht.
»Lieutenant Stowe«, meldete sie sich leise.
»Hier.«
»Können Sie zwischen Kahn und Kai irgend etwas
Auffälliges im Wasser erkennen?«
»Von hier aus nicht. Aber ich habe Sie im Blick.«
Julia drehte sich unwillkürlich um und blickte über den
Bayou, aber vor ihr lag nur tiefe Dunkelheit, »Sie können mich
erkennen?«
»Durch ein Nachtsichtgerät. Ich wollte verhindern, daß sich
jemand heimlich an Sie heranschleicht.«
Der treue, alte Lieutenant Stowe. Zu einem anderen
Zeitpunkt, an einem anderen Ort, hätte sie ihn vielleicht sogar in
ihr Herz schließen können. Doch derzeit hatte sie beim
geringsten Gedanken an Liebe und Zärtlichkeit sofort Dirk Pitt
vor Augen. Zum erstenmal in ihrem Leben war sie in einen
Mann vernarrt, und sie wußte noch nicht recht, wie sich das mit
ihrem Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit vertrug.
Beinahe widerwillig wandte sie sich wieder ihrem Auftrag zu . Zunächst einmal galt es herauszufinden, wie Qin Shang seine
Schleppergeschäfte aufzog.
»Meiner Meinung nach muß unter dem Kahn ein weiterer
Frachtraum sein, vielleicht sogar ein Boot«, meldete sie.
»Was deutet darauf hin?« fragte Stowe.
»Ich habe Stimmen durch den Kiel gehört. Das würde auch
erklären, warum es den Chinesen immer wieder gelingt, illegale
Immigranten an der Einwanderungsbehörde, dem Zoll und der
Küstenwache vorbei über Sungari ins Inland zu schleusen.«
»Ich würde Ihnen ja gern glauben, Ms. Lee, aber
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