Höllenflut
wie froh ich
bin, Sie wiederzusehen.«
Stowe starrte unverwandt zur anderen Seite des Bayou. Er
rückte seine Kopfhörer zurecht, zog das Mikrofon dicht an den
Mund. »Ms. Lee. Antworten Sie bitte, wenn Sie mich hören
können.«
Einen Moment lang meinte er erstickte Laute zu hören, dann
war die Verbindung mit Julia tot. Im ersten Augenblick wäre er
am liebsten über den Bayou gebrettert und hätte die Fabrik
gestürmt. Aber er wußte nicht genau, ob Julia tatsächlich in
Gefahr schwebte, und solange er davon nicht hundertprozentig
überzeugt war, durfte er das Leben seiner Männer nicht aufs
Spiel setzten. Außerdem war es durchaus möglich, daß er in
einen Hinterhalt geriet, zumal er sich auf dem Gelände nicht
auskannte. Stowe verhielt sich wie jeder andere pfiffige Offizier,
seit die Menschheit zum erstenmal stehende Heere aufgeboten
hatte: Er überließ die Entscheidung seinem Vorgesetzten.
»Weehawken, hier spricht Lieutenant Stowe.«
»Wir hören Sie«, meldete sich Captain Lewis.«
»Sir, ich glaube, hier gibt es Schwierigkeiten.«
»Was ist los?«
»Wir haben keine Verbindung mehr mit Ms. Lee.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann meldete sich
Lewis zurück. »Halten Sie Ihre jetzige Position und beobachten
Sie die Raffinerie. Erstatten Sie sofort Bericht, wenn es etwas
Neues gibt. Ich melde mich wieder.«
Stowe stand in der Barkasse und blickte über den Bayou
hinweg auf die dunkel dräuenden Gebäude am anderen Ufer,
»Gott steh dir bei, wenn irgendwas schiefgeht«, murmelte er
leise. »Ich kann's nämlich nicht.«
36
Pitt und Giordino ließen sich Zeit, als sie von dem
ausgebrannten Stützpunkt aufbrachen. Die
Fernmeldeeinrichtungen in dem Plantagenhaus waren mit
Sicherheit verglüht - von hier aus konnte sich niemand mehr mit
Qin Shangs Hauptquartier in Verbindung setzen. Sie ruderten
den Kanal entlang, als sei nichts geschehen, steuerten den
Tauchroboter neben dem Schiff her und suchten seelenruhig den
Grund ab, Dann stießen sie wieder auf den Atchafalaya und
ruderten ein Stück flußaufwärts bis zu Hooker's Bayou. Der
Himmel im Osten färbte sich gerade grau, als sie zu dem
Shantyboot zurückkehrten. Romberg begrüßte sie mit einem
kurzen Augenaufschlag und versank wieder im Reich der
Hundeträume.
Ohne sich lange aufzuhalten, verstauten sie ihre
Tauchausrüstung und das AUV. Sobald das Schiff auf dem
Dach festgezurrt war, ließ Giordino den schweren Ford-Motor
an, während Pitt die Stangen, an denen das Boot vertäut war, aus
dem sumpfigen Boden zog. Noch ehe die Sonne aufging, war
das Shantyboot flußabwärts auf dem Atchafalaya unterwegs.
»Wohin?« schrie Giordino aus dem Ruderhaus nach unten in
die Kabine.
»Bartholomeaux«, brüllte Pitt ihm über den Motorenlärm
hinweg zu.
Giordino sagte nichts mehr. Auf dem Fluß herrschte mehr
Betrieb, als er um diese Tageszeit erwartet hatte. Zahlreiche
Krebs- und Austernboote waren bereits zu ihren Fanggründen
unterwegs. Schleppzüge, die droben am Old River Canal Lock,
der großen Schleuse oberhalb von Baton Rouge, vom
Mississippi in den Atchafalaya gefahren waren, zogen an ihnen
vorüber. Vorsichtig umfuhr er die anderen Boote, aber sobald er
vorbei war, drehte er den Sieben-Liter-Motor bis auf halbes Gas
auf und bretterte mit rund vierzig Stundenkilometern
flußabwärts.
Pitt saß unterdessen auf dem kleinen Sofa im Wohnraum und
sah sich die Videobilder an, die der Tauchroboter auf seiner
Erkundungsfahrt vom Mississippi bis zur Einmündung des
Kanals in den Atchafalaya aufgezeichnet hatte. Ein
zweifelhaftes Vergnügen. Bis auf ein paar Fische, eine
vorüberpaddelnde Schildkröte und einen aufmüpfigen
Babyalligator sah er sechs Stunden lang nur trübe Brühe. Er war
zwar erleichtert, daß er keine Leichen entdeckte, aber
keineswegs überrascht. Zum erstenmal meinte Pitt eine Ahnung
zu haben, was Qin Shang beabsichtigte. Der Kanal war der
Schlüssel, und allmählich glaubte er auch zu wissen, zu
welchem Zweck er gestochen worden war. Aber noch war er
sich nicht hundertprozentig sicher. Noch hatte er keine Beweise.
Nur eine vage Vorstellung, an die er selbst nicht recht glauben
mochte.
Er schaltete das Fernsehgerät ab und lehnte sich auf dem Sofa
zurück. Er traute sich nicht, die Augen zu schließen, denn
Einschlafen galt nicht; das wäre unfair gegenüber Giordino
gewesen. Außerdem gab es noch eine Menge zu tun. Zunächst
bereitete er das Frühstück zu, Rühreier mit Schinken,
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