Höllenherz / Roman
die Wohnung.
Tränen schwammen in Talias Augen.
Sie ist kein Beweisstück! Sie ist kein Ding! Michelle war eine warmherzige, lebendige Frau.
Hass auf die Männer brodelte in Talias Innerem, gefolgt von einer tiefen Scham.
Sie
war das Monster. Es war ihre Schuld, dass Michelles Leben so hässlich und grausam endete. Talia verdiente den Abscheu dieser Männer.
Baines wandte sich zu dem Uniformierten. »Na gut, du willst einen Vampir verhaften, dann hätte ich einen Namen für dich. Ich habe das Melderegister für Abtrünnige überprüft.«
Melderegister? Was für ein Melderegister?
»Und?«
»Die Cousine der Toten, Talia Rostova, steht auf der Liste. Ein mächtiger Vampir aus dem Osten hat sie gewandelt, und er sucht nach ihr. Anscheinend macht sie Schwierigkeiten. Diebstahl, unter anderem.«
Mist! Wieso habe ich meinen Namen nicht geändert? Wie blöd von mir!
Natürlich führten die Vampirmeister solche Register. Das war die einfachste Art, Flüchtige zu finden, damit sie zu ihren Clans zurückgebracht und bestraft werden konnten. Und warum sollten sie die menschliche Polizei nicht in die Suche mit einspannen?
Als Allererstes musste sie also ihre Identität ändern. Leute, die einem falsche Papiere verkauften, gab es überall, nur kannte Talia sie nicht. Außerdem roch das viel zu sehr nach James Bond. Sie hatte gehofft, dass es reichte, weit genug weg zu sein, und natürlich hatte sie auch darauf gezählt, dass kein Vampirkönig wagte, in Königin Omaras Hoheitsgebiet einzudringen – schon gar nicht Belenos. Er sollte seine Lektion gelernt haben.
Offenbar täuschte sie sich.
Ich bin derart unfähig und blöd!
Die Schlächter hatten sie für den Kampf ausgebildet, nicht für die Flucht. Jetzt musste sie den Preis für ihre Gedankenlosigkeit bezahlen.
Nein, Michelles Andenken würde den größeren Schaden nehmen, denn alle suchten nun nach Talia statt nach dem wahren Mörder. Plötzlich schien es ihr weit wichtiger als alles andere, dass ihrer toten Cousine Gerechtigkeit widerfuhr.
Dafür zu sorgen war das Einzige, was sie noch für Michelle tun konnte.
Die Trage wurde ratternd aus der Wohnung gerollt. Von ihrer Cousine war nichts außer einem unförmigen Klumpen in einem Leichensack übrig. Sie wollte schreien und begann, so heftig zu zittern, dass sie die Tür mit einem Fuß stützen musste. Trotzdem klapperte der Riegel in ihrer Hand leise.
O Gott, Michelle!
Inzwischen war sie über Tränen hinweg. Es war eher, als könnte ihr Leib die Gefühle, die in ihr tobten, nicht mehr in sich behalten. Gleichzeitig wich sämtliche Kraft aus ihren Gliedern.
Nichts existierte mehr außer dem Anblick ihrer toten Cousine.
Sie hörte Lor nicht kommen. Auf einmal fühlte sie ihn wie eine heiße Wand hinter sich und ertrank in seinem Geruch. Er griff an ihr vorbei zur Tür. Stumm starrte sie ihn an, verstand zunächst überhaupt nicht, was seine Anwesenheit bedeutete. Wie betäubt nahm sie wahr, dass seine Fingerknöchel aufgeschürft waren, als hätte er sich geprügelt.
»Lass los!«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Höllenhunde haben Macht über Türen und Durchgänge. Ich kann sie schließen, ohne dass jemand etwas bemerkt.«
Talia zögerte und blickte wieder zur Rolltrage, bis sie schließlich im Aufzug verschwunden war. Dann erst trat sie einen Schritt zurück und kollidierte mit seinem harten Körper.
Lautlos schloss er die Tür, ehe er ihre Oberarme packte. »Du bist entkommen.«
»Nein, bin ich nicht«, entgegnete sie matt. »Ich bin doch hier, fest in deinem Griff.«
Er drehte sie um, ohne sie auch nur einen Sekundenbruchteil ganz loszulassen. Es war beinahe komisch, denn was sie eben gehört und gesehen hatte, raubte ihr sowieso jede Kraft. Im Moment hätte er mit ihr machen können, was er wollte.
»Wir verschwinden lieber von hier«, sagte er leise.
Talia konnte sich nicht rühren. Sie fühlte sich wie ein schwarzes Loch, negativer Raum. Lor hingegen strahlte Dringlichkeit aus – nicht bloß Ungeduld, sondern ein glühendes Feuer. Zuerst wollte Talia zurückweichen, und das nicht bloß, weil er sie wieder gefangen genommen hatte, sondern weil er schlicht
zu viel
war. Zu lebendig, zu maskulin. Sie wollte mit ihrem Kummer allein sein, denn die Trauer stellte das einzig Reale dar.
Zu allem Übel war es zu zweit auf dem kleinen Treppenabsatz sehr eng, weshalb er sie zwischen sich und der Wand einklemmte. Sie wandte ihr Gesicht ab und wünschte, sie hätte in den harten Beton hinter sich sinken
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