Höllenherz / Roman
bereits Vorsprung. Und nachdem er nun eine klarere Orientierung hatte, würde er auch die anderen Dinge herausbekommen. Es wäre effizienter gewesen, seine Informationen mit Baines auszutauschen – der Mann war offensichtlich kein Idiot –, aber Höllenhunde hatten nicht so lange überlebt, weil sie anderen vertrauten. Er brauchte handfeste Beweise für Talias Schuld, bevor er sie der Gnade menschlicher Cops auslieferte.
Fasziniert von dem wirbelnden, tanzenden Schnee, überquerte er die Straße. Die Flocken erinnerten an kalte Küsse auf seiner Haut, kühl und flüchtig wie Geister. Oder Vampire.
Nicht dass deren Haut so kalt gewesen wäre. Vielmehr fühlte sie sich kühl und seidenglatt an, bezaubernd wie halbvergessene Träume. Nein, es war nicht die Temperatur, sondern die merkwürdig gedämpfte Melancholie des Schnees, die ihn an Untote denken ließ.
Oder vielleicht auch die Stille. Talia war zu neu, als dass sie schon diese unheimliche Ruhe besessen hätte. Die kühle Ruhe erinnerte Lor an eine andere Untotenschönheit.
Constance Moore und ihr Sohn hatten in der Burg gelebt, dem Gefängnis, in dem Lor aufwuchs. Weil Lor mit ihrem Sohn befreundet, fast wie ein großer Bruder gewesen war, hatte sie ihn bei ihren täglichen Unterrichtsstunden dabei sein lassen. Sie brachte Lor Lesen und Schreiben bei – rare Fertigkeiten für einen niederen Höllenhund. Seine Leute galten kaum mehr als Sklaven, aber Constance war ausnahmslos freundlich zu ihm gewesen. Und heute ermöglichte ihm das Wissen, das sie ihm vermittelt hatte, in der Menschenwelt zurechtzukommen.
Vielleicht lag es auch an Constance, dass er Talia beschützen wollte.
Närrisch!
Sie waren vollkommen verschieden. Mehr noch: Er war heute ein anderer, ein erwachsener Alpha, der keine Zeit für Sentimentalitäten hatte. Deshalb stand er mit seinem Handy im Schnee und wollte einer hübschen Vampirin den Rücken freihalten, der er nicht hätte helfen dürfen.
Leider war er geliefert, seit sie versucht hatte, ihm gegen den Kopf zu treten. Er hatte nun einmal eine Schwäche für temperamentvolle Frauen.
Idiot!
Lor begann, eine Nummer einzutippen. Er war hinausgegangen, weil er nicht riskieren wollte, dass die Cops etwas von seinem Gespräch mithörten. Nun schritt er ungeduldig auf und ab.
Zum Glück war Perry noch auf.
»Fehl ich dir?«, meldete der Werwolf sich trocken. »Oder setzt du auf meine Genialität und hoffst, dass ich dein waberndes Übel schon gefunden habe?«
»Hast du?«
»Nein.«
»Schade. Es ist noch etwas passiert.«
»Ja, von dem Brand in der Klinik habe ich gehört. Bei den Vampiren ist die Fledermauskacke am Dampfen, weil ihnen das Wahlkampfbüro abgefackelt wurde.«
Lor ignorierte den wenig subtilen Scherz, denn er wollte vor allem Talias Unschuld beweisen. »Es gab einen Mord in meinem Wohnhaus.«
Nach kurzem Schweigen stieß Perry einen Laut aus, den man nicht ganz als Lachen bezeichnen konnte. »Wie bitte?«
»Ich denk mir das nicht aus.«
Der Wolf fluchte. »Was zur Hölle ist denn heute Nacht los?«
Lor blickte sich auf der Straße um. Vor den Häusern lag mittlerweile eine Schneeschicht, die alles trügerisch friedlich aussehen ließ, wie auf einer dieser Grußkarten. »In meinem Haus gibt es keine Sicherheitskameras an den Eingängen. Sind hier irgendwo anders welche, in die du dich einhacken kannst?«
»Keine Ahnung. Kommt darauf an, wie gut sie geschützt sind. Willst du mich in den Knast bringen?«
»Dazu bist du zu gut.«
»Meinst du. Was ist in der Nähe?«
Lor zählte die Geschäfte auf.
»Hmm. Die Bank und der Supermarkt an der Ecke kämen am ehesten in Frage. Wahrscheinlich gibt es auch irgendwo eine Verkehrskamera. Suchen wir jemand Bestimmtes?«
»Den Mörder.«
»Du solltest dringend deinen Wortschatz erweitern, Wauwi.«
»Ich habe keine Beschreibung«, erwiderte Lor gereizt. »Vielleicht sind es auch zwei – einer, der alles kontrolliert, und einer, der zuschlägt. Oder ein Einzelner, der stark genug ist, um allein einen Kopf abzuschlagen.«
Für einen Moment herrschte Stille am anderen Ende. »Sie haben den Kopf abgeschlagen? Das ist eine Exekution. Wer ist gestorben?«
»Die Frau, die wir heute Abend ins Haus gehen sahen. Die, bei deren Anblick du Kekse backen wolltest.«
Er hörte Perry wütend schnauben. »Ich melde mich, sowie ich was habe.«
»Viel Glück!« Eine Dunstwolke stieg bei seinen letzten Worten gen Himmel – wie ein Gebet.
Lor klappte sein Handy zu und überlegte, was
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