Höllenherz / Roman
können.
»Komm schon!«, drängte er und zupfte an ihrem Arm. »Das Letzte, was du gebrauchen kannst, ist, dass Baines durch diese Tür kommt.«
Jetzt erst sah Talia zu ihm auf und in seine Augen. Sie hatte Zorn erwartet, doch sie entdeckte nichts als Traurigkeit. Kein Mitleid, sondern eine Spannung um den Mund und die Augen, die den Schmerz in ihren spiegelten. Er hatte ihren Kummer erkannt, und das dämpfte die Feindseligkeit zwischen ihnen.
Ein Teil von ihr wollte wütend sein, denn mit Wut konnte sie umgehen. Sie würde ihr helfen, einfach zuzuschlagen, ihn die Treppe hinunterzuschubsen und über ihn hinweg in die verschneite Nacht zu stürmen. Aber das konnte sie nicht, wenn er sie ansah, als läse er in ihrer Seele.
»Willst du mich wieder einsperren?«
»Wahrscheinlich.«
»Warum?«
»Ich weiß nach wie vor nicht, ob du die Wahrheit sagst. Und jetzt treibt sich noch ein anderer Vampir im Haus herum. Riechst du ihn nicht?«
Er hatte die Frage kaum ausgesprochen, als die Spur einer anderen Präsenz durch den Nebel in ihrem Kopf drang. Talia fröstelte, denn schlagartig war ihr eiskalt. »Ich habe gehört, wie die Cops redeten. Es gibt ein Melderegister für abtrünnige Vampire. Vielleicht hat mein Meister herausgefunden, wo ich bin, und einen Kopfgeldjäger geschickt.«
Lor zog die Brauen zusammen. »Und wieso bleibst du dann hier stehen?«
»Ich …« Darauf wusste sie keine Antwort. Sie war erschüttert von der Szene, die sie eben bezeugt hatte. Was vor Stunden noch ihr Zuhause gewesen war, hatte nichts mehr von einem Zufluchtsort. Vor ihrem geistigen Auge sah Talia nur die Cops, die Rolltrage und den Leichensack. Ihr wurde schwindlig, so dass sie sich an der Wand abstützen musste.
Vampire werden nicht ohnmächtig, oder? Können wir in einen Schock fallen?
Lor sah sie streng an. »Vertrau mir, unten bist du sicherer! Ich sorge für deinen Schutz.«
»Ich vertraue niemandem.« So lautete schon lange ihr Mantra, und Michelle war die einzige Ausnahme gewesen.
»Meinetwegen. Sämtliche Ausgänge werden bewacht, und falls du das Vampir-Hypnose-Ding noch nicht aus dem Effeff beherrschst, kommst du hier die nächsten Stunden nicht weg.«
Er schlang einen Arm um ihre Taille, sowohl um sie zu stützen als auch um ihr jedes Entkommen unmöglich zu machen. Sie sträubte sich, stemmte sich von ihm ab, und er ließ sie, hielt ihr eines Handgelenk jedoch fest umklammert.
Die ersten Treppen gingen sie vorsichtig hinunter, wurden aber schneller, sobald sie wussten, dass die Polizisten oben ihre Schritte nicht mehr hören konnten.
»Was war so wichtig, dass du dein Leben riskieren wolltest, um es dort zu holen?«, fragte Lor, kaum dass er die Tür seiner Wohnung hinter ihnen geschlossen und Talia ins Schlafzimmer zurückgebracht hatte.
»Mein Laptop. Mein Geld. Mein Führerschein. Mein alles.« Talia ging etwas auf Abstand und sah ihn an. Sie fühlte sich ein klein wenig stabiler. »Vielleicht musste ich mich auch nur verabschieden.«
O Gott, ich bin wieder in seinem Schlafzimmer! Mist!
Bei diesem Gedanken regte sich endlich Wut in ihr. »Kapierst du das nicht? Mein Leben ist eben zu einem Scherbenhaufen zerfallen – wieder einmal.«
Er lehnte sich an die Tür und versperrte ihr so den Fluchtweg. In dieser Haltung entging Talia nicht, dass seine Jeans teilweise schon sehr weichgewetzt war. »Wieder einmal?«
»Was denkst du denn?« Trotzig verschränkte sie ihre Arme und stampfte zum Fenster. »Es ist ein ziemlicher Aufwand, neu durchzustarten, wenn man gestorben ist und als Monster aufwacht. Da hat man einige Verluste hinzunehmen. Und die werden offensichtlich nicht weniger.«
Ihre Mutter, ihre Menschlichkeit, ihre Familie, ihr Vampirclan. Und jetzt dies. Ihr Kopf wurde langsam klarer, und ein tiefes, dumpfes Pochen vor Wut hob in ihr an. Jemand hatte ihr den letzten Lichtstrahl genommen, und derjenige musste dafür bezahlen. Michelles Tod sollte gesühnt werden. Das war etwas, in dem sich Talia die Schlächterin und Talia die Vampirin einig waren. Nein, nicht bloß Sühne. Die wäre zu harmlos.
Rache.
Ich bin kein Opfer. Ich bin die Rächerin.
Draußen schneite es immer noch, doch Talia registrierte es kaum. Sie war zu erschüttert, als dass sie allzu viel Notiz von den Dingen um sie herum nahm. Schließlich wandte sie sich wieder zu Lor um. »Du musst mich gehen lassen. Ich finde heraus, wer Michelle das angetan hat. Dann jage und zerfleische ich ihn.«
Lor sah sie verwundert an. »Das ist
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