Höllenherz / Roman
vorgekommen, besonders nach ihrer anfänglichen Panik vor den anderen dreien. Sie hatte eindeutig zu lange isoliert gelebt. Entsprechend bedeutete die Rückkehr zu der Gruppe im Wohnzimmer für sie einen emotionalen Triumph.
Und bei Triumphen war sie nicht wählerisch. Talia drehte sich um und bemerkte eine Trägheit in ihren Gliedern, die ihr sagte, dass sie gestern nicht genug gegessen hatte. Es war dieselbe Art körperliche Müdigkeit, wie sie nach einer Grippe auftrat: Man war nicht mehr richtig krank, aber auch noch nicht richtig gesund.
Wie lange werde ich mich an solche Dinge erinnern?
Würde sie in zehn Jahren noch wissen, wie Äpfel schmeckten? Wie es aussah, wenn die Sonne auf einem Swimmingpool glitzerte?
Sie blickte zum Fenster und zog sich die Decken bis unters Kinn. Nach wie vor war das Glas von außen vereist, und Schneeschleier stoben durch die Luft. Es war schwer zu sagen, ob neuer Schnee vom Himmel fiel oder alter aufgewirbelt wurde.
In einer Nacht wie dieser hatte sie versucht, nach Hause zurückzukehren. Es war um die Weihnachtszeit gewesen, doch in ihrer Familie wurde nichts besonders gefeiert. Talia hatte sich aus dem Haus ihres Meisters geschlichen und war meilenweit in Hausschuhen durch den Schnee gestapft. In jenem ersten Jahr als Vampir war es ihr schwergefallen, klar zu denken.
Sie hatte sich von hinten ihrem Elternhaus genähert, von dem Hügel aus, auf dem einzelne Kiefern wie schwarze Punkte aufragten. Von Baum zu Baum schlitterte sie den dunklen Abhang hinab zu der vertrauten Gartenpforte und schürfte sich dabei die Hände an den rauhen Rinden auf. Der strenge Harzgeruch benebelte sie. Das matte Licht im Küchenfenster verlieh dem kleinen heruntergekommenen Haus ein wenig Eleganz.
Durch das Fenster konnte sie den Resopaltisch mit den Chrombeinen und die gepolsterten Stühle sehen, bei denen die Risse im Kunstleder mit Klebeband geflickt waren. Talia hatte all ihre Mahlzeiten an diesem Tisch eingenommen und all ihre Hausaufgaben dort gemacht. Es war der eine Platz, an dem die Familie zweimal täglich zusammenkam, morgens und abends.
Bis ihre Mutter fortgegangen, zu ihren eigenen Leuten zurückgelaufen war. Hinterher hatte Talias Vater den Stuhl ihrer Mutter in die Garage gebracht. Mit dieser einen Geste hatte er ihren Platz in der Familie ausradiert, sie aus dem Heim verbannt. Talias Vater war kein gebildeter Mann, aber er verstand einiges von Symbolik.
Diese Erinnerung war Talia Mahnung genug gewesen, dass sie vorsichtig war, als sie sich dem Haus näherte. Mit dem Instinkt eines verwundeten Hundes war sie nach Hause gekommen, wo sie um Hilfe bitten wollte. Wenn irgendjemand wusste, wie man den Fluch eines Vampirs aufhob, dann waren es ihr Vater und dessen Kumpel. Aber da war die Sache mit dem Stuhl. Für ihren Vater war die Welt schwarz oder weiß.
Trotzdem raffte sie ihren Mut zusammen und schlich sich so nah heran, dass sie durchs Küchenfenster sehen konnte. Ihr Vater und ihr Onkel saßen beim Abendessen. Dampf stieg aus den Schalen mit Eintopf auf, und Talia wurde schmerzlich bewusst, dass ihre Füße Eisblöcken glichen und ihr Magen sich vor Hunger verkrampfte – obgleich sie nicht nach Eintopf hungerte.
Ihr Stuhl war ebenfalls fort, genauso verschwunden wie Moms, aus dem Familienkreis entfernt. Für ihre Leute war sie nicht mehr als ein Monster mit einem vertrauten Gesicht.
Talia hatte sich abgewandt und war zu dem Meister zurückgekrochen, der ihr das Leben aus dem Leib gesogen hatte. Welchen Unterschied machte das schon? Wäre sie in die Küche gegangen, hätte es jemanden das Leben gekostet. In ihrer Familie setzte man sich stets bewaffnet zum Essen, jederzeit auf einen Angriff vorbereitet. So hielten es die Schlächter.
Die Vampire hatten Talia aus Rache entführt und gewandelt. Was für ein Schenkelklopfer, ein Schlächtermädchen in etwas zu verwandeln, was ihre Familie zutiefst hasste! Womöglich glaubten sie, ihr Vater brächte es nicht übers Herz, seiner Tochter den Kopf abzuschlagen.
Das war tatsächlich witzig. Er würde ohne den Hauch eines Zweifels seine Pflicht erfüllen. Darauf waren sie alle trainiert worden, einschließlich Talia und ihres Bruders. Sterben oder töten. Ihr früherer Verlobter, Tom, war mit ihr zusammen gestorben und doch so vollkommen anders.
Sie konnte nicht an Tom denken. Sie hatten sich nie geliebt. Ihr Vater hatte Tom für sie ausgesucht, und Tom hatte ein traditionelles Schlächter-Zuhause gewollt, mitsamt Kindern, die im
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