Höllenherz / Roman
eine alte zerschlissene Jacke. Sie reichte ihr bis zu den Knien und sah aus, als hätte Lor sie bei der Reparatur eines Dieselmotors getragen.
Dann stürmte sie aus der Wohnungstür hinaus in das stickige Zwielicht des Korridors.
Ich stecke in gewaltigen Schwierigkeiten.
[home]
17
V or der Feuertür des Hinterausgangs lag der Parkplatz unter einer glitzernden Schneedecke. Talia stand auf dem kleinen Treppenabsatz, den jemand freigeschaufelt hatte, damit sich die Tür öffnen ließ. Davor hatte sich eine kniehohe Schneewehe aufgetürmt, die sich vom Parkplatz bis zur Straße erstreckte. Mit den Reihen von schneeverhüllten Wagen sah die Fläche wie eine überdimensionierte Eierpappe aus.
Talia hatte gewusst, dass es schneite, jedoch nicht annähernd mit solchen Schneemassen gerechnet. In ihrer Heimatstadt waren die Winter deutlich härter gewesen, nur waren sie dort schrittweise gekommen, so dass der Körper Zeit hatte, sich für die Kälte zu wappnen. Hier hingegen war die eisige Witterung irrwitzig schnell über die Stadt hereingebrochen.
In ihrem Kopf tauchte ein Bild vom Hügel hinter dem Zuhause ihrer Kindheit auf. Kinder spielten dort selbst dann, wenn die Erwachsenen in Fragen von Leben und Tod verstrickt waren. Ihr Bruder Max und sie hatten einmal eine große Kühlbox gefunden und sie als Rodel benutzt. Damit waren sie den Hügel hinuntergeschlittert, bis ihre Kleidung vollständig durchnässt gewesen war. Anschließend hatten sie sich eine Schneeballschlacht mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft geliefert. In ihrer Gegend kannte jeder jeden, und die meisten waren sowieso über einige Ecken miteinander verwandt.
Ihre Mom war die Außenseiterin gewesen. Was hatte sie dazu gebracht, Dad zu heiraten? Und warum hatte er, der große Schlächter, sich eine Frau außerhalb des Stammes gesucht?
Weil sich Gegensätze anziehen?
Falls ja, galt das jedenfalls nicht langfristig. Talias Vater hatte praktisch alles Leben aus ihrer Mom herausgeprügelt – nicht mit seinen Fäusten, sondern mit seinem eisernen Willen. Wieso tötete er das Strahlende in ihr, das doch einmal sein Herz erobert hatte?
Weil es uns verwundbar macht, jemanden zu lieben. Und Schlächter erlauben sich keine Schwächen.
Vor allem aber fragte Talia sich, warum ihre Mutter so lange gebraucht hatte, bis sie ging. Sie musste wohl wegen Max und Talia geblieben sein, ihretwegen ausgeharrt haben. Kurz nachdem Talia fortgezogen war, um zu studieren, war ihre Mom dann verschwunden. Ein Jammer, dass sie nach nur einem Jahr in Freiheit an Krebs starb.
Die Männer gaben Talia die Schuld. Wäre sie nicht an die Universität geflohen, hätte es die Familie nicht zerrissen. Das war die Waffe, mit der sie Talia zurückzerrten: Schuldgefühle.
Sie stellten mich schon als Monster hin, bevor ich eines wurde.
Meistens machte es sie wütend, doch manchmal glaubte sie den alten Vorwürfen.
Du bist selbstsüchtig, denkst nur an dich und machst alles immer schlimmer.
Die Fakten ließen sich problemlos so hindrehen, dass die Theorie passte. Sie war zum Studieren fortgegangen und hatte ihre Mutter verloren. Sie war nach Fairview geflohen und hatte Michelle verloren. Sie hatte ihre Verlobung lösen wollen und verlor alles – bis hin zu ihrem Leben.
Talia trat einen Schritt vor. Ihre hochhackigen Stiefel rutschten auf dem gefrorenen Boden. Tagsüber hatte es gerade genug geschneit, dass der Gehweg vereist war, und danach hatte eine Schneeschicht das spiegelglatte Pflaster überdeckt. Talia fing sich ab, indem sie ihre Arme flügelgleich ausbreitete. Die Kälte biss ihr in die Zehen. Jimmy-Choo-Sonderposten eigneten sich definitiv nicht für Arktisexpeditionen.
Sie hörte ein Klappern an der Tür hinter sich, gefolgt von Lors Stimme. »Du brichst dir noch was, bevor du die Straße erreicht hast!«
»Kannst du mich nicht mal einen Moment nachdenken lassen?« Ihre Worte stiegen in Dampfwolken auf, die Talia überraschten. Aber natürlich brauchte sie Atem, wenn sie sprach.
Er schwieg kurz. »Denkt es sich nicht besser im Warmen?«
Vorsichtig drehte sie sich zu ihm um. Seine Mundwinkel zuckten, als müsste er sich das Lachen verkneifen. »Ich würde sagen, der Tweedmantel hätte dir besser gestanden.«
Sein Lächeln brachte sie zum Erröten. Talia blickte an sich hinab. Sie sah aus, als wäre sie frisch aus einem Müllcontainer geklettert. »Ich war nicht sicher, ob ich zurückkomme.«
»Deshalb hast du meine Jacke genommen?«
»Wenn du die nicht
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