Höllenherz / Roman
Stamm aufwuchsen. Talia wollte ihrem Vater zwar gefallen, aber so sehr dann auch wieder nicht. Sie hatte sich von Tom getrennt, was die Geschehnisse jedoch nicht minder furchtbar machte. Und außerdem war da Max …
Talia rollte sich aus dem Bett, rastlos durch die Erinnerungen. Falls diese netten Monster von letzter Nacht erfuhren, was sie im Laufe der Jahre getan hatte, wie viele nichtmenschliche Leben sie genommen hatte, würden sie sich geschlossen gegen sie wenden. Was jederzeit passieren konnte. Mit dieser Wahrheit musste sie sich arrangieren.
Aber ich kann nicht weglaufen. Michelle wurde ermordet, und ich muss ihr Gerechtigkeit verschaffen, egal, wohin es mich führt!
Außerdem hatte sie Fortschritte gemacht. Nun wusste sie, dass sie nach Belenos suchten, und sie hatte ihre Freiheit.
Solange die Situation weniger zum Kotzen ist als gestern, gebe ich nicht auf.
Sie bemerkte, dass Lor die Schlafzimmertür wieder eingehängt hatte, während sie den tiefen Schlaf der Untoten schlief. Allerdings hatte er sie offen gelassen. Auf der Kommode stapelten sich einige ihrer persönlichen Sachen: Kleidung, Waschzeug und ihre Kuriertasche. Für einen Moment war sie starr vor Staunen. War ein Tatort nicht erst einmal eine ganze Weile gesperrt? Hatte Lor seine Talente im Schlösseraufbrechen genutzt, um in die Wohnung zu kommen?
Sie schnappte sich die Tasche und legte sie auf das Bett. Als sie den Reißverschluss geöffnet hatte, stellte sie fest, dass alles unberührt wirkte. Da waren die Arbeiten, die sie korrigieren musste, Bücher aus der Bibliothek und das übliche Durcheinander an Stiften und Haftnotizen. Unter den Papieren befand sich in einer Seitentasche ihr Netbook. Sie zog es heraus und strich über die glatte schwarze Oberfläche. Normalerweise nahm die Polizei Computer doch mit, oder nicht? Ihren Laptop hätten sie gewiss haben wollen. Jemand musste das Netbook versehentlich dortgelassen haben.
Talia klappte es auf, fuhr den Rechner hoch und klickte sich direkt in ihre E-Mails. Zwischen einigem Spam fanden sich drei neue Nachrichten, alle von Studenten. Um sicherzugehen, öffnete sie keine von ihnen. Sie wollte lediglich wissen, ob irgendjemandem ihr Verschwinden aufgefallen war. Offensichtlich nicht. Wäre sie noch Teil der Schlächter-Gemeinde, hätten sie gleich am nächsten Tag nachgesehen, was mit ihr los war. So übel jene Gemeinschaft sein mochte, sie war Talias Zuhause gewesen.
Sie schloss das E-Mail-Fenster und tippte die URL für eine private Website ein, die sie vor ein paar Monaten entdeckt hatte. Sie gab das Passwort ein – das herauszubekommen, hatte sie einige Mühe gekostet, wenn auch nicht dramatisch viel – und wartete, während die Seite ihre Eingabe prüfte.
Sie gehörte der Schlächter-Zentrale, in der Informationen über die europäischen wie die hiesigen Stämme zusammenliefen. Hauptsächlich handelte es sich um Foren, auf denen sich die Besucher austauschten, zumeist in anderen Sprachen als Englisch. Talia klickte das »Nordamerika«-Forum an und blätterte die neuen Einträge durch.
Da war er: Max, ihr Bruder. Sehnsüchtig blickte sie den Namen an und wünschte sich, es gäbe irgendeine Möglichkeit, ihm zu sagen, dass sie noch hier war und gern wüsste, ob es ihm gut ging. Der Drang war so stark wie eine Sucht und ebenso schwer abzulegen.
Sie las die Nachricht, die er zuletzt erfasst hatte: »Folge großem Roten. Melde mich später.«
Großer Roter war der Schlächter-Jargon für einen Vampir; rot für Blut. Max war auf der Jagd – oder war es gewesen; die Nachricht war fast zwei Wochen alt. Vor Sorge wurde Talia die Brust eng.
Warum hat er seither nichts mehr geschrieben?
Sie bekam schreckliche Angst. Manche in Belenos’ Clan hatten versucht, nett zu ihr zu sein, selbst als sie ihnen allen gegenüber feindselig aufgetreten war. Langsam und widerwillig hatte Talia angefangen, sie nicht mehr als Monster zu sehen.
Hinter wem warst du her, Max? Und hatten diejenigen es verdient?
Dieser Gedanke kam ihr nicht zum ersten Mal, nur war er klarer denn je. Ihr wurde beinahe übel.
Bring niemanden um, den ich kenne, okay?
Sie loggte sich aus und schloss ihr Netbook. Aus Furcht davor, entdeckt zu werden, hielt sie sich nie länger auf der Website auf. Sie bildete ihre einzige Verbindung nach Hause, und Talia wollte nicht riskieren, sie zu verlieren – egal, wie mulmig ihr bei den Neuigkeiten aus ihrem alten Leben wurde.
Nachdem sie ihr Netbook wieder in die Tasche gesteckt
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