Höllenherz / Roman
suchte das Dach des gegenüberliegenden Gebäudes ab. Dort oben würde der Schütze sich am ehesten verstecken; aber leider ließen sich ohne Strom und Mond nur tintige Schatten ausmachen. Höllenhunde sahen nachts gut, doch nicht gut genug für diese Verhältnisse.
Also lauschte er und versuchte, das Geräusch von Stiefeln einzufangen, die auf Schiefer schabten. In der Kälte und Dunkelheit war die Lautübertragung seltsam verzerrt. Alles, was er hörte, war das Zischeln des fallenden Schnees und das Rascheln seiner eigenen Kleidung beim Atmen.
Dann bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass die Tür lautlos wieder aufschwang.
Nein, bleib drinnen!
Perry warf etwas heraus, als der nächste Schuss donnerte. Das Objekt flog in einem Bogen aufwärts, der jedem professionellen Pitcher Ehre gemacht hätte, geradewegs in die Richtung, aus der gefeuert wurde. Es war klein, kaum größer als ein Baseball, wuchs allerdings im Flug und erblühte zu einem Lichtball, der den Campus in ein unheimliches Blaugrün tauchte. Lor schirmte seine Augen mit einem Arm ab und blinzelte in den grellen Schein. Er sah einen Mann auf dem Dach aufspringen und zurück in den Schatten kippen. Zwar drückte Lor sofort ab, doch der Winkel war schlecht. Außer dunkler Kleidung hatte er nichts erkannt.
Der Ball explodierte zu sprühenden Funken wie eine Wunderkerze. Auf dem Campus glitzerten blaugrüne Punkte auf, bevor die Lichtsterne britzelnd im Schnee landeten. Zauberei oder Chemie? Lor war nicht sicher, schließlich war Perry in beidem versiert, aber wenigstens hatte es ihm einen flüchtigen Blick auf den Verdächtigen ermöglicht.
Er zwinkerte ein paarmal, um die Flecken wegzublinzeln, die er noch wegen der grellen Explosion sah, und suchte das gegenüberliegende Gebäude mit seinen Blicken ab. Nichts. Kein Scharfschütze, keine Andeutung von Bewegung. Geduckt überbrückte Lor die Entfernung zwischen diesem und dem anderen Haus, da pfiff eine Kugel an seinem Ohr vorbei. Er zog den Kopf ein, wich seitlich aus, kämpfte sich durch den schweren Schnee und schaffte es bis in die Nähe der Hauswand.
Der letzte Schuss war aus einem anderen Winkel abgefeuert worden. Der Schütze bewegte sich. Lor lief mit gezogener Pistole bis ans Ende des Gemäuers und bog um die Ecke. Da war eine Tür, nur einen Spalt offen, denn sie war von nassem Schnee blockiert.
Lor schlüpfte hinein. Durch den Stromausfall war es sehr dunkel. Die Tür führte zu einer großen Wendeltreppe, die sich um eine riesige hängende Metallskulptur wand. Lor schlug intuitiv den Weg nach oben ein und hoffte, der Schütze würde nicht gleichzeitig abwärts und in einen anderen Bereich des Gebäudes laufen. Das war das Beste, was er tun konnte, denn es gab einfach zu viele Ausgänge, um sie alle im Blick zu behalten, also blieb die Chance auf einen direkten Kampf als einzige Option.
Durch die Treppenhausfenster fiel gerade hinreichend Licht herein, dass er sich seinen Weg nicht ertasten musste. Im ersten Stock blieb Lor stehen und lauschte. Eine kalte Brise fing sich in den Metallscherben der Skulptur, so dass sie sich an ihren langen dünnnen Ketten bewegten. Lor hatte einige Mühe, die Geräusche auszublenden.
Als er sonst nichts hörte, schritt er weiter die Treppe hinauf. Er hatte gerade die dritte Stufe erreicht, als er ein einzelnes Schaben vernahm und erstarrte. Über ihm schlugen durch einen Luftzug zwei Metallscherben mit einem unheimlichen Klirren zusammen.
Die Waffe auf den Treppenabsatz im ersten Stock gerichtet, ging er wieder nach unten. In einem stromlosen Getränkeautomaten tropfte schmelzendes Eis. Lor blickte in den Flur, der vom Treppenhaus zu den Seminarräumen führte. Ein Schatten huschte über das Fenster am anderen Flurende, so schnell, dass es beinahe wie eine optische Täuschung wirkte. Zufriedenheit regte sich in Lor.
Zielobjekt gesichtet. Nun begann die eigentliche Arbeit.
Er schlich aus dem Treppenhaus und lief los. Als er bei dem Fenster ankam, wo er die Gestalt gesehen hatte, bemerkte er einen glänzenden Fußabdruck auf dem Fliesenboden, der nur in diesem Lichtwinkel zu erkennen war. Lor bückte sich und sah ihn genauer an. Der Größe nach handelte es sich um den Abdruck eines erwachsenen Mannes, aber viel mehr ließ sich daraus nicht deuten. Lor folgte der Richtung des Abdrucks zur Südseite des Gebäudes.
Dort waren weniger Fenster, und in diesem Teil gab es entweder keine Notbeleuchtung, oder sie war auch ausgefallen. Lor konnte bloß die Umrisse
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