Höllenherz / Roman
Auftrag. Überleben ist eine Schlacht, die man mit jedem einzelnen Kind gewinnt. Jeder Verlust bedeutet, dass das ganze Rudel geschwächt wird. Wir leben und sterben gemeinsam.«
Talia schloss die Augen. Er hatte eben sein Leben für sie riskiert, indem er sich jemandem von seinen Leuten entgegenstellte. Niemand hatte je etwas Derartiges für sie getan. Deshalb ertrug sie es nicht, ihm auch nur eine Sekunde länger die Wahrheit vorzuenthalten.
Dennoch zögerte sie, fürchtete den Sturz ins Ungewisse.
Er wird mich hassen. Vielleicht tötet er mich sogar.
Und doch verdiente er, zu erfahren, wen er gerettet hatte. Und vielleicht, ganz vielleicht, verdiente sie das Recht, sich nicht mehr zu verstecken.
Ihr leichter Schwindel ähnelte dem, als sie durch die Mauer im Krankenhaus gesprungen war.
»Der Mann, dem ich nachgejagt bin, Max, er ist mein Bruder.«
»Ja, das hat Errata mir erzählt.«
»Wir wurden zu Schlächtern erzogen.«
Er wich gerade weit genug zurück, dass er sie anschauen konnte. »Als Errata über dich recherchierte, stolperte sie schon über diese Möglichkeit. Und dass dein Bruder im Krankenhaus aufgetaucht ist, hielt sie nie für ein Familientreffen.« Seine Stimme klang ruhig, aber angespannt.
Talia kam es vor, als würde ihr Innerstes verpuffen und sie vollkommen leer zurücklassen, leer wie die Tunnel unter den Straßen der Altstadt.
Sie zog ihren rechten Ärmel hoch und zeigte Lor ihr Tattoo. »Ich wurde als Schlächterin geboren. Zur Schlächterin ausgebildet. Mein Vater lehrte mich, alles zu töten, was nicht menschlich ist.«
Sie sah ihm an, wie er die Einzelteile zusammenfügte, während sein Blick suchend über ihr Gesicht wanderte. »Was dich zu einem verlockenden Ziel für jemanden wie Belenos machte.«
»Rache.«
»Und dein Vater hat auch nicht versucht, dich zu retten?«
»Sollte er mich jemals finden, wird er mich umbringen. Das war ja der eigentliche Zweck von Belenos’ kleinem Scherz. Du hättest erleben müssen, wie mein Bruder mich ansah. Er war …«
Er war ein entwöhnter Süchtiger, der schreckliche Angst hatte, dass sie ihn wieder beißen würde. Die Erinnerung an sein ängstliches Flehen schnürte ihr die Kehle zu. »Die Schlächter sind hier, und sie setzen Magie ein. Ich glaube, es hat mit der Wahl zu tun.«
Lor betrachtete sie nachdenklich. In seiner Miene las sie, dass er ihre letzten Worte gehört hatte, sie aber nicht weiter beachtete. Er blieb ganz auf sie konzentriert, als wäre sie das Einzige, was zählte.
»Ich hätte gleich darauf kommen können, was du früher warst. Deine Vergangenheit überrascht mich nicht.« Er klang ein wenig unsicher; offenbar wusste er noch nicht genau, was ihr Geständnis bedeutete. »Die Art, wie du kämpfst, wie du mit einer Waffe umgehst. Neue Vampire haben gewöhnlich wenig Erfahrung mit Werwesen und Halbdämonen. Du bist in Gegenwart von Nichtmenschlichen aufmerksam, aber du hast keine Angst.«
Talia wartete auf irgendein Zeichen seiner Ablehnung, wappnete sich dafür, als wäre ein Chirurg im Begriff, ihr ins Fleisch zu schneiden, ohne es vorher zu vereisen. »Ich schätze, ich habe mich selbst verraten« war alles, was sie herausbrachte.
Lor sah sie immer noch an. »Nicht gegenüber anderen. Deine Tarnung ist gut. Die Kleidung. Der Job an der Uni.«
»Das ist keine Tarnung«, widersprach sie mit einem Anflug von Gereiztheit. »Ich bin eine Frau. Mir gefallen schöne Dinge.«
Seine Mundwinkel zuckten. »Du besitzt sehr viel Kleidung.«
»Pfoten weg von meinem Kleiderschrank!«
Seine Haltung veränderte sich kaum merklich, als seine Muskeln sich entspannten. »Ich würde es nicht wagen, ihn anzurühren.«
Dass er sich locker gab, machte es ihr möglich, ein wenig von ihrer Spannung loszulassen. »Und ich habe nicht gelogen, als ich sagte, dass ich nichts anderes will als Unterrichten. Mir macht es nichts aus, anderen in den Hintern zu treten, aber das tue ich doch lieber in einem Klassenzimmer.«
»Dass menschliche Männer fasziniert von ungezogenen Schulmädchen sind, habe ich schon gehört, aber die Lehrerinnen haben sie anscheinend nicht bedacht.«
»Du hasst mich also nicht?«
»Nein, ich denke nicht.«
Sie war verwirrt. »An meinen Händen klebt eine Menge Nichtmenschlichenblut.«
Er strich mit seinem Daumen über ihre Stirn, um die Sorgenfalten zu glätten. »Das tut mir leid. Aber ich glaube nicht, dass du heute noch machen würdest, was du früher getan hast, stimmt’s?«
»Nein. Ich würde immer
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