Hoellenpforte
sie einander gegenüber und suchten krampfhaft nach einem Gesprächsthema. Paul trug teure Jeans und ein Polohemd, die ihm nicht standen. Tatsächlich fühlte er sich nur in Anzug und Krawatte wohl. Sie waren für ihn wie eine zweite Haut. Vielleicht lag es am Alter. Er war neunundvierzig und mehr als die Hälfte dieser Zeit Anwalt gewesen. In seinem Leben drehte sich alles um Verträge, komplizierte Berichte und Statistiken. Es war schwer, sich vorzustellen, wie er als Teenager gewesen war.
»Wirst du zurechtkommen, Scarly?«, fragte er. Scarly war sein Kosename für sie.
»Ja, klar.« Scarlett nickte.
Keiner von ihnen hatte noch einmal über St. Meredith gesprochen. Paul Adams schien ihre Story akzeptiert zu haben. Ihr war schlecht geworden. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was dann passiert war. Scarlett fragte sich, warum sie ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte. Er war immer freundlich zu ihr gewesen. Warum log sie ihn jetzt an?
»Es tut mir leid, Dad«, sagte sie.
»Es gibt nichts, das dir leid tun müsste.« Paul Adams nippte an seinem Wein. »Hast du wirklich keine Ahnung, was mit dir passiert ist?«
»Ich wünschte, ich wüsste es.«
»Du könntest es mir sagen, weißt du. Ich wäre bestimmt nicht böse. Ich meine, falls es da irgendein Geheimnis gibt oder etwas, das du dich nicht zu sagen traust…«
Scarlett schüttelte den Kopf. »Ich habe der Polizei alles gesagt.«
Paul Adams nickte. Dann kam der Kellner mit Spaghetti Carbonara für ihn und einer Pizza für Scarlett.
»Wie läuft der neue Job?«, fragte Scarlett, als er sich wieder verzogen hatte. Sie hatte absichtlich das Thema gewechselt.
»Oh, gar nicht schlecht.« Paul Adams drehte Spaghetti um seine Gabel. »Möchtest du in den Weihnachtsferien nach Hongkong kommen? Ich habe mit deiner Mutter gesprochen und es wäre ihr recht, wenn ich dich dieses Jahr bekomme. Ich könnte ein paar Tage freinehmen, damit wir zusammen Ausflüge machen können.«
»Das hört sich gut an«, sagte Scarlett, obwohl sie sich insgeheim fragte, wie es sein würde, mit ihm unterwegs zu sein, nur sie beide. Es kam ihr vor, als wären sie sich unheimlich schnell sehr fremd geworden.
Sie aßen schweigend. Paul Adams schien sein Essen nicht zu schmecken. Er ließ mehr als die Hälfte übrig. Dann nahm er die Brille ab und putzte sie mit der Serviette. Scarlett beobachtete ihn dabei und stellte fest, wie alt er geworden war. Es waren nicht nur seine Haare, die grau geworden waren. Alles an ihm sah alt aus.
»Es tut mir leid, Scarly«, sagte er. »Ich fürchte, ich habe dich enttäuscht. Wenn ich gewusst hätte, dass Vanessa und ich nicht zusammenbleiben würden… Vielleicht hätten wir es uns zweimal überlegen sollen, ein Kind zu adoptieren, obwohl ich natürlich froh bin, dass wir es getan haben. Ich bin unheimlich stolz auf dich. Aber es war nicht fair, dich mit Mrs Murdoch allein zurückzulassen.«
»Das war meine Entscheidung«, erinnerte ihn Scarlett.
»Ja, das stimmt wohl.«
»Warum musst du in Hongkong arbeiten?«, fragte Scarlett.
»Es ist eine großartige Gelegenheit. Es geht dabei nicht nur ums Geld. Nightrise hat Büros überall auf der Welt, und wenn ich mich hocharbeite…« Er verstummte. »Ich werde nur ein oder zwei Jahre dort bleiben. Das habe ich meinem Boss von Anfang an gesagt. Dann lasse ich mich in das Londoner Büro versetzen und wir sind wieder zusammen.«
»Mach dir um mich keine Sorgen, Dad. Ich komme zurecht.«
»Wirklich, Scarly? Das hoffe ich.«
Er flog am nächsten Tag mit der Morgenmaschine ab.
Scarlett ging bereits wieder zur Schule – was anfangs auch nicht einfach gewesen war. Die Schulleiterin, eine grauhaarige Dame, die strenger aussah, als sie tatsächlich war, hatte die Schüler bei der morgendlichen Vollversammlung angewiesen, Scarlett in Ruhe zu lassen, aber natürlich hatten sich alle auf sie gestürzt und sie mit Fragen bombardiert, wo sie denn nun wirklich gewesen sei. Scarlett war im Fernsehen zu sehen gewesen. Damit war sie so etwas wie eine Berühmtheit. Einige der jüngeren Mädchen hatten sie sogar um ein Autogramm gebeten. Manche Lehrer waren allerdings weniger erfreut, sie zu sehen – vor allem Joan Chaplin. Die Kunstlehrerin hatte einen Teil der Verantwortung für Scarletts Verschwinden übernehmen müssen, was sie Scarlett ziemlich übel nahm.
Die nächsten Tage vergingen mit der üblichen Routine aus Unterrichtsund Sportstunden. Es gab Unmengen von Hausaufgaben und Proben für die
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