Hoellenpforte
Weihnachtsaufführung. Alles war wieder ganz normal – zumindest sagte sich Scarlett das immer wieder. Aber in ihrem Herzen wusste sie, dass nichts wirklich normal war. Und vielleicht würde es das auch nie wieder sein.
Sie hatte bereits entschieden, dass es nur eine Person gab, der sie die Wahrheit über ihr Verschwinden erzählen konnte. Nicht ihrem Vater. Nicht Mrs Murdoch. Sondern Aidan. Er war ihr bester Freund. Er würde sie nicht auslachen. Sie hatte ihm eine SMS geschrieben und sie trafen sich nach der Schule, um gemeinsam in aller Ruhe nach Hause zu gehen, während die anderen Schüler davonströmten.
Scarlett erzählte ihm alles: von der Tür, dem Kloster, Pater Gregory, ihrer Flucht. Sie redete immer noch, als sie in der Nähe des Museums in den Park einbogen und den langen Weg um den Spielplatz herum und über den Rasen nahmen.
»Glaubst du, dass ich verrückt bin?«, fragte sie, nachdem sie ihren Bericht beendet hatte. Es hatte Momente gegeben, in denen sie sich selbst diese Frage gestellt hatte. War es möglich, dass die offizielle Version der Ereignisse die richtige war? Hatte sie sich irgendwie den Kopf an der Wand gestoßen und die ganze Geschichte nur geträumt?
»Ich fand dich schon immer ein bisschen merkwürdig«, sagte Aidan grinsend.
»Aber so etwas Verrücktes zu träumen…«
»So wie du es erzählst, klingt es nicht nach einem Traum.« Seine Augen begannen zu leuchten. »Hey – vielleicht sollten wir noch mal in diese Kirche gehen. Wir könnten ein zweites Mal durch die Tür gehen und sehen, was passiert.«
Scarlett schauderte bei diesem Gedanken. »Das könnte ich nicht.«
»Wieso nicht? Wenn wir zusammen durchgehen, würde das zumindest beweisen, dass es die Wahrheit ist.«
»Ich könnte nicht zurückgehen. Womöglich warten die schon auf mich. Sie würden mich packen und das Ganze ginge von vorn los.«
»Ich würde dich beschützen!«
»Die würden dich umbringen. Die würden uns beide umbringen.«
Sie hatten den Park durchquert und verließen ihn durch das Tor an der Nordseite. Ein Stück die Court Lane hinunter war die Ampelkreuzung, an der Scarlett zwei Jahre zuvor beinahe tödlich verunglückt wäre.
Scarlett war gerade um die Ecke gebogen, als sie das Auto sah.
Es war ein silberner Mercedes mit getönten Scheiben, durch die sie nur sehen konnte, dass zwei Personen darin saßen. Ihre Gesichter waren nicht zu erkennen. Der Wagen parkte auf der anderen Straßenseite und normalerweise hätte sie ihn nicht einmal bemerkt – wenn es nicht schon das vierte Mal gewesen wäre, dass sie ihn sah. Am Morgen auf dem Weg zur Schule hatte er vor der Kneipe Krone und Greyhound geparkt. Auch da hatten zwei Leute darin gesessen. Er hatte sie überholt, als sie mit ihrem Vater auf dem Weg in das italienische Restaurant gewesen war. Und sie hatte ihn von ihrem Zimmer aus gesehen, wie er durch die Straße fuhr, in der sie wohnte.
Sie blieb stehen.
»Was ist los?«, fragte Aidan.
»Diese beiden Männer.« Sie zeigte auf das Auto. »Die beobachten mich.«
»Scar…«
»Doch, ehrlich. Ich habe sie schon ein paar Mal gesehen.«
Aidan sah in ihre Richtung. »Vielleicht sind es Journalisten«, sagte er. »Du bist halt geheimnisumwittert. Wahrscheinlich wollen sie dich interviewen.«
»Die verfolgen mich.«
»Wenn du willst, frage ich sie.«
Entweder hatten sie ihn kommen sehen oder sie ahnten, was er vorhatte. Als Aidan auf die Straße trat, startete der Fahrer den Motor und verschwand mit quietschenden Reifen um die Ecke.
Scarlett sah den Mercedes nicht wieder, aber damit war es nicht erledigt. Ganz im Gegenteil. Der Vorfall bestätigte ihr, was sie schon die ganze Zeit gespürt hatte.
Sie wurde beobachtet. Da war sie ganz sicher. Schon in den letzten paar Tagen, bevor ihr Vater abgereist war, hatte sich ein merkwürdiges Gefühl in ihr ausgebreitet - das Gefühl, auf einem Objektträger gefangen zu sein, den jemand durch ein Mikroskop betrachtete. Sie hatte sich dabei erwischt, wie sie vollkommen Fremde auf der Straße musterte, weil sie überzeugt war, dass sie sie beobachteten. Wenn sie an einer Überwachungskamera vor einem Laden oder Büro vorbeiging, kam es ihr vor, als drehte sie sich in ihre Richtung, als würde ihr Glasauge sie anstarren. Sie stellte sich vor, wie irgendjemand in einem weit entfernten geheimen Raum vor einem Bildschirm saß und jeden ihrer Schritte beobachtete.
Sogar wenn Scarlett allein in ihrem Zimmer war, hatte sie das Gefühl, belauscht zu werden, und
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