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Hoellenpforte

Hoellenpforte

Titel: Hoellenpforte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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natürlich nicht wissen, aber trotzdem kam es ihr so vor, als hätte er diese Worte absichtlich gewählt. Wollte er sie quälen? Der Vorsitzende war schon auf dem Rückweg zu seinem Schreibtisch, aber in dem Moment, als er sich weggedreht hatte, glaubte Scarlett, etwas in seinen Augen zu sehen. Oder bildete sie sich das nur ein? Immerhin hatte er ihr gerade ein wertvolles Geschenk gemacht. Aber trotz seiner scheinbaren Freundlichkeit und seines Mitgefühls hätte sie schwören können, noch etwas anderes gesehen zu haben. Ein kurzes Aufblitzen von Grausamkeit.
    Scarlett verbrachte den Rest des Nachmittags in den Geschäften. Sie kaufte allerdings nichts, was sehr untypisch für sie war. Zu Hause in England hatte Aidan oft gestichelt, dass sie sogar Geld für einen Taucheranzug hinauswerfen würde, wenn er nur das richtige Etikett hätte. Aber an diesem Tag war sie nicht in der richtigen Stimmung. Sie hatte das Gefühl, eine Erkältung zu bekommen. Es war immer noch sehr feucht, ähnlich einem feinen Nieselregen, der in der Luft hängt und nie auf dem Boden ankommt. Auch der silbriggraue Dunst fiel ihr jetzt deutlicher auf. Er lag über der ganzen Stadt und folgte ihr sogar in die Arkaden. Die Wolkenkratzer verschwanden darin, ihre oberen Stockwerke verschwammen einfach wie bei einem schlecht entwickelten Foto. In Hongkong war es unmöglich, Entfernungen abzuschätzen. Der Dunst hüllte alles ein, sodass es aussah, als führten die Straßen nirgendwohin und als tauchten Menschen und Autos aus dem Nichts auf.
    Sie fragte Audrey Cheng danach.
    »Das ist Smog«, sagte sie, als verstünde sich das von selbst. »Es ist aber nicht unserer. Er zieht vom chinesischen Festland herüber. Wir können nichts dagegen tun.« Sie sah auf die Uhr. »Zeit zum Abendessen, Scarlett. Wollen wir nach Hause fahren?«
    Scarlett nickte.
    Und dann tauchte ein Stück vor ihnen ein Mann auf. Scarlett bemerkte ihn, weil er stehen geblieben war und die Menschen zwang, ihm auszuweichen. Sie waren in der Queen Street, einer der belebtesten Straßen Hongkongs, in der sich prunkvolle Schaufenster mit Pelzen, goldenen Armbanduhren, topmodernen Kameras und Diamantringen aneinanderreihten. Der Mann war ein junger Chinese in einem Anzug mit einem weißen Hemd und einer gestreiften Krawatte. Er hielt einen Umschlag in der Hand und blickte ihr entgegen.
    »Scarlett…«, begann er.
    Er verschwand. In dem Augenblick, in dem er ihren Namen ausgesprochen hatte, verschluckte ihn die Menschenmenge. Es war das Unglaublichste, was Scarlett jemals gesehen hatte. Gerade eben noch waren die Leute ganz normal unterwegs gewesen – Hunderte von ihnen, irgendwelche Fremden. Und dann hatte es ausgesehen, als hätte jemand irgendwo einen Schalter umgelegt, und plötzlich reagierten die Leute alle gleich: Sie machten kehrt und strömten alle in eine Richtung. Der Mann ging einfach unter. Scarlett versuchte, in der brodelnden Menge etwas zu erkennen, aber es war unmöglich. Sie glaubte, einen Schrei zu hören. Dann löste sich die Menge wieder auf. Der Mann war verschwunden.
    Nur der Umschlag war noch da. Er lag zerknittert auf dem Boden. Scarlett beschleunigte ihren Schritt, um ihn aufzuheben, aber jemand anders war schneller – ein Fußgänger, der gerade vorbeikam. Es war nur irgendein Mann auf dem Heimweg. Sie konnte nicht einmal sein Gesicht sehen. Er schnappte sich den Umschlag und nahm ihn mit.
    »Was war das?«, fragte Scarlett entgeistert.
    »Was meinst du?« Audrey Cheng sah sie mit leerem Blick an.
    »Dieser Mann…«
    »Welcher Mann?«
    »Er hat meinen Namen gerufen. Und dann hat die Menge ihn einfach verschluckt.« Sie konnte immer noch nicht fassen, was sie gerade gesehen hatte. »Er hatte einen Brief, den er mir geben wollte.«
    »Ich habe nichts gesehen«, sagte Mrs Cheng.
    »Aber ich. Er stand genau da vorn.«
    »Du bist immer noch übermüdet von der Reise.« Audrey Cheng hob die Hand und Karl hielt mit dem Wagen neben ihnen. »Wenn man müde ist, bildet man sich leicht etwas ein.«
    Scarlett war froh, nach Wisdom Court zurückzukommen, obwohl sie es natürlich lieber gesehen hätte, wenn ihr Vater da gewesen wäre, um sie zu begrüßen. Sie würde in seinem Zimmer schlafen. Audrey Cheng hatte das zweite Schlafzimmer genommen und Karl übernachtete offensichtlich woanders. Scarlett war immer noch geschockt. Wie konnte eine Menschenmenge sich so verhalten? Sie musste wieder daran denken, wie alle Fußgänger plötzlich kehrtgemacht hatten. Es war, als

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