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Hoellenpforte

Hoellenpforte

Titel: Hoellenpforte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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faszinierten sie die chinesischen Stände mit den unbekannten Gewürzen und Gemüsesorten, den Nudelsuppen, die unter freiem Himmel vor sich hin brodelten, und den vielen Schildern und Hinweisen auf Chinesisch, die die Luft erfüllten wie die Fahnen und Banner eines feindlichen Heeres. Aber auf diesen Märkten gab es auch viele eklige Dinge zu sehen. Scarlett sah Dutzende lebendiger Hühner in winzigen Käfigen und – direkt daneben – tote Hühner, die vollkommen flachgeklopft und wie deformierte Pfannkuchen aufgestapelt worden waren. Am nächsten Stand wurde ein Aal in einer Blutlache in zwei Teile geschnitten. Ein Ziegenkopf hing mit leblos starrenden Augen an einem Haken, aus seinem Hals hingen die abgerissenen Arterien. Der Kopf war von den Teilen umgeben, die einmal sein Körper gewesen waren. Und dann war da ein der Länge nach durchgeschnittener Fisch, dessen blutige Hälften nebeneinander lagen. Das war mit Abstand das Ekligste. Das arme Vieh lebte noch. Scarlett konnte seine inneren Organe pumpen sehen.
    Mrs Cheng warf einen Blick darauf und lächelte. »Frisch!«, sagte sie anerkennend.
    Scarlett fragte sich, wie lange sie wohl in Hongkong bleiben musste, um Vegetarierin zu werden.
    Sie gingen weiter, vorbei an verschiedenen Ständen mit Fleisch. Mrs Cheng wollte am Abend wieder kochen und brauchte noch Zutaten. Als sie einen Moment stehen blieben, fiel Scarlett auf, dass einer der Schlachter sie anstarrte. Er schien total fasziniert von ihr zu sein, als wäre sie ein Filmstar oder ein wichtiger Staatsbesuch. Und er konzentrierte sich nicht auf das, was er tat.
    Er zerhackte Knochen in einem Stück Fleisch mit einem kleinen Beil. Scarlett beobachtete, wie die Klinge einmal niedersauste, ein zweites Mal…
    Beim dritten Schlag verpasste der Schlachter das Fleisch und traf seine eigene linke Hand. Scarlett sah, wie das Metall in die Hand eindrang und seinen Daumen fast vollständig abtrennte.
    Blut spritzte, aber das war nicht das Schlimmste.
    Schlimmer war, dass der Schlachter es nicht merkte. Er hob das Beil noch einmal, ohne zu merken, dass seine Hand flach auf dem Hackbrett lag, mit zuckendem Daumen in einer immer größer werdenden Blutlache. Er war so an Scarlett interessiert, dass er nichts anderes wahrnahm. Dass Scarlett ihn so geschockt anstarrte, musste ihn gewarnt haben, denn vor dem nächsten Hieb schaute er nach unten und wich sofort zurück. Er hielt sich die verletzte Hand und verschwand im dunklen Innern seines Ladens.
    Was für ein Mensch konnte sich beinahe die eigene Hand abhacken, ohne eine Miene zu verziehen? Auf dem Hackbrett mischte sich menschliches mit tierischem Blut. Es war nicht länger zu erkennen, welches von wem stammte.
    An diesem Abend aß Scarlett kein Fleisch. Sofort nach dem Essen verzog sie sich in ihr Zimmer. Die Wohnung hatte Kabelfernsehen und sie sah sich die Wiederholung einer alten englischen Komödie an. Auch wenn sie nicht darüber lachen konnte, erinnerte sie der Film doch an zu Hause. Sie dachte immer öfter daran, wieder abzureisen. Wenn ihr Vater nicht bald kam, würde sie darauf bestehen. Wie hatte ihr das überhaupt passieren können? Wieso hockte sie plötzlich auf der falschen Seite der Erde, und das auch noch ganz allein?
    Sie ging ans Fenster und sah hinaus.
    Bei Nacht war Hongkong noch umwerfender als tagsüber. Die Fenster waren hell erleuchtet – Zigtausende von ihnen – und alle Wolkenkratzer erstrahlten in irgendwelchen Lichteffekten.
    Einige sahen aus, als wären sie durch gleißendes weißes Neonlicht in abstrakte Formen zerschnitten worden. Andere wechselten die Farbe von Grün über Blau zu Lila wie durch Zauberhand. Und an einigen gab es so riesige Bildschirme, dass Werbung und Wetterbericht auf der anderen Seite des Hafens deutlich zu sehen waren und sich im dunklen Wasser spiegelten. Eines dieser Gebäude stand Wisdom Court direkt gegenüber.
    Scarlett schaute hinaus, dachte an den Schlachter und an den durchgeschnittenen Fisch auf dem Markt, der noch gelebt hatte, und starrte dabei wie hypnotisiert auf den riesigen Bildschirm.
    Er musste zu einer Bank oder der Börse gehören, denn er zeigte etwas, was wie Aktienkurse aussah. Doch noch während Scarlett hinsah, verschwanden die langen Listen von links nach rechts und wurden durch vier Buchstaben in leuchtend goldener Schrift ersetzt.
     
    SCAR
     
    Das war ihr Name, der Name, den Aidan ihr gegeben hatte.
    Sie musste lächeln und überlegte, wofür die Buchstaben wohl standen.

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