Hoellenpforte
wären sie durch eine innere Stimme gesteuert worden, die Scarlett als Einzige nicht hatte hören können.
Sie aß ihr Abendbrot, sagte Gute Nacht zu Mrs Cheng und verzog sich in ihr Zimmer. Da sie nach ihrer Ankunft am Morgen nur frische Sachen aus dem Koffer genommen hatte, packte sie jetzt den Rest aus. Als der Koffer fast leer war, machte sie eine Entdeckung. Jemand hatte ihr einen Reiseführer hineingelegt. Vermutlich Mrs Murdoch, was nett von ihr war – nur merkwürdig, dass sie es nicht erwähnt hatte. Scarlett blätterte darin. »Auf Weltreise: Hongkong und Macau. Durchgehend illustriert mit dreißig Farbtafeln und detaillierten Karten.« Das Buch war neu.
Aber es war nicht das Einzige, was sie an diesem Abend fand.
Scarlett hatte etwas Schmuck mitgebracht – ein paar Halsketten und das Armband, das Aidan ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Sie beschloss, diese Dinge in der Schublade des Nachttisches zu verstauen, doch als sie an der Schublade zog, rührte sie sich nicht. Vermutlich war das der Grund, aus dem niemand bemerkt hatte, dass die Schublade nicht ganz leer war. Sie zog kräftiger daran und bekam sie schließlich auf.
Ganz hinten war ein rotes Büchlein eingeklemmt gewesen. Scarlett brauchte ein paar Sekunden, um zu erkennen, was es war. Dann nahm sie es in die Hand und schlug es auf.
Es war der Reisepass ihres Vaters.
Paul Edward Adams. Da war sein Foto. Ausdrucksloses Gesicht, Brille, gekämmte Haare. Der Pass war voller Stempel aus der ganzen Welt und er war noch gültig.
Der Vorsitzende hatte sie belogen.
Wenn ihr Vater seinen Pass in der Wohnung gelassen hatte, konnte er sicher nicht nach China gereist sein. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, war auch die Nachricht, die er hinterlassen hatte, irgendwie komisch. Warum hatte er sie getippt? Sie war nicht einmal unterschrieben. Jeder hätte sie schreiben können. Und der Vorsitzende der Nightrise Corporation (hatte er ihr überhaupt seinen Namen genannt?) – war es nicht eigentlich merkwürdig, dass er sich als Chef des Unternehmens selbst die Zeit genommen hatte, die Tochter eines Mitarbeiters zu empfangen?
Es war elf Uhr in Hongkong. Vier Uhr nachmittags in England. Scarlett ging ins Bett, aber sie konnte nicht schlafen. Sie lag lange Zeit wach und dachte an den Pass, den Passkontrolleur mit den Krokodilaugen, den Vorsitzenden und seinen Scherz über den Ruf nach Gnade und den Mann, der versucht hatte, ihr einen Brief zu geben.
Sie war erst einen Tag in Hongkong und wünschte schon jetzt, sie wäre nie hergekommen.
DER ERSTE KONTAKT
In den nächsten paar Tagen versuchte Scarlett zu vergessen, was passiert war, und konzentrierte sich darauf, einfach nur Touristin zu sein. Bestimmt hatte sie sich die Ungereimtheiten nur ausgedacht. Und für den Pass ihres Vaters musste es eine andere Erklärung geben. Vielleicht hatte er noch einen zweiten. Oder seine Firma hatte ihm für die Fahrt nach China andere Reisedokumente gegeben. Schließlich lag es direkt jenseits der Grenze. Sie entschied sich bewusst dafür, nicht länger darüber nachzugrübeln. Er würde bald wieder da sein, und bis es so weit war, würde sie ihren Aufenthalt einfach als verlängerte Ferien betrachten. Das war doch entschieden besser, als zur Schule zu gehen!
Sie fuhr mit der Star-Fähre nach Kaulun und zurück und trank Tee im altmodischen Peninsula Hotel – winzige Sandwiches, Topfpalmen und ein Streichquartett in schwarzen Anzügen, das klassische Musik spielte. Sie besuchte Disneyland, das zwar klein war und nicht allzu viele schnelle Fahrten zu bieten hatte, das aber ansonsten ganz in Ordnung war, solange es einen nicht störte, Micky Maus kantonesisch sprechen zu hören. Sie fuhr hinauf auf den Peak, von dem man eine tolle Aussicht hatte, vergleichbar mit der aus einem tieffliegenden Flugzeug. Früher konnte man von dort aus bis nach China sehen, erzählte Mrs Cheng, aber dem hatte die Luftverschmutzung ein Ende bereitet.
Scarlett besuchte Tempel und Märkte und ging einkaufen und tat alles, was sie konnte, um sich einzureden, dass sie Spaß hatte. Es funktionierte nicht. Sie fühlte sich furchtbar. Sie wollte nach Hause.
Sie vermisste ihre Freunde in der Schule, vor allem Aidan. Sie hatte versucht, ihm eine SMS zu schicken, aber der Smog schien das Signal zu blockieren und es kam keine Antwort. Dann hatte sie versucht, ihre Mutter in Australien anzurufen, aber Vanessa Adams war verreist. Ihre Sekretärin sagte, dass sie Scarlett zurückrufen würde,
Weitere Kostenlose Bücher