Hoellenpforte
nicht erhoben. Auch sein Gesicht war ausdruckslos wie vorher. Trotzdem erkannte Scarlett, dass sie besser den Mund gehalten hätte. Er war es nicht gewohnt, unterbrochen zu werden. »Was glaubst du«, fuhr er fort, »wie viele von diesen Leuten sterben können, bevor du es merkst? Wie viele von ihnen können im Schlaf erschossen oder erstochen werden, bevor sich in der Stadt etwas ändert? Fünfzig? Oder fünfhundert? Oder vielleicht fünfhunderttausend? Kannst du mir genau beschreiben, wie der Mann ausgesehen hat, der dir vorhin die Fahrkarte verkauft hat? Oder der Fahrer, der euch auf den Peak gebracht hat? Oder der Mann, der die Blätter zusammengekehrt hat, als ihr losgegangen seid? Stell dir vor, sie alle verschwinden und werden durch Leute ersetzt, die ihnen ein bisschen ähnlich sehen, aber nicht sie sind. Würde dir das auffallen? Wenn sie und ihre ganze Familie umgebracht würden, würde dich das belasten? Wir sehen nur, was wir sehen wollen, denn so ist das in Städten nun einmal. In einem Dorf, auf dem Land, entgeht den Menschen nichts. Aber auf den Straßen der Stadt stellen wir uns mit Absicht blind.«
»Wollen Sie damit sagen, dass das passiert ist?«, fragte Scarlett. »Seit ich hergekommen bin, habe ich verrückte Dinge gesehen. Und es wohnt niemand in Wisdom Court. Das ganze Haus ist leer. Glauben Sie wirklich, dass die alle umgebracht wurden?«
»In den letzten drei Monaten ist Hongkong übernommen worden«, antwortete Lohan. »Es ist sehr schnell gegangen, ähnlich wie bei einem Virus. Es ist unmöglich, zu sagen, wie viele Menschen getötet wurden. Jeder, der bemerkt hat, was vor sich geht, oder versucht hat, dagegen anzukämpfen, ist entfernt worden. Was passiert ist, ist so gewaltig, so schrecklich, dass es fast nicht zu begreifen ist.
Natürlich haben einige Leute etwas geahnt und es geschafft, mit ihrem Geld und ihren Familien zu verschwinden. Frag sie, warum sie gegangen sind, und sie werden dich anlügen. Sie werden sagen, dass sie eine Veränderung brauchten oder dass es geschäftliche Gründe hatte. Aber in Wahrheit sind sie gegangen, weil sie Angst hatten. Andere Leute haben gemerkt, dass sich Hongkong verändert hat. Sie sind geblieben, weil sie keine Wahl haben und nirgendwo anders hinkönnen. Auch sie haben Angst. Aber sie ziehen den Kopf ein und leben wie gewohnt in der Hoffnung, dass man sie in Ruhe lässt, solange sie keine Fragen stellen. Wenn du arm bist, Scarlett, wenn du einen winzigen Verkaufsstand auf der Straße hast, was interessiert es dich, wer die Stadt beherrscht? Für dich ist nur wichtig, woher die nächste Mahlzeit kommt. Die Stadt soll gefälligst selbst auf sich aufpassen.«
»Wer hat Hongkong übernommen?«, fragte Scarlett, obwohl sie die Antwort schon kannte.
»Sie nennen sich die Alten«, sagte Lohan. »Zumindest in deiner Sprache. Wir sprechen von Gwei, bösen Geistern. Es gibt viele Namen für sie.«
»Ich weiß von ihnen«, sagte Scarlett. »Pater Gregory hat davon gesprochen.«
»Wer ist Pater Gregory?«
»Ein Mönch. Ich bin durch eine Tür in einer Mauer gegangen und da war er…«
»Das war in der Kirche St. Meredith.« Lohan kannte den Namen. Vielleicht hatte er in der Zeitung darüber gelesen, dass Scarlett verschwunden war, aber irgendwie bezweifelte sie das. Er schien eine ganze Menge zu wissen. Sie fragte sich, wie das möglich war, denn sie hatte immer noch keine Ahnung, welche Rolle er in dieser Sache eigentlich spielte. »Du musst wissen, dass wir uns schon sehr lange für dich interessieren, Scarlett«, sagte Lohan, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
»Wir?«
»Damit meine ich eine Organisation, die mir die große Ehre erweist, mich zu ihren Mitgliedern zu zählen. Genau genommen haben wir dich seit dem Tag deiner Geburt beobachtet.« Er verstummte kurz, um seine Worte wirken zu lassen, und fuhr dann fort. »Hast du dich je gefragt, wie du in das Pancoran-KasihWaisenhaus in Jakarta gekommen bist? Ich kann es dir verraten. Wir haben dafür gesorgt. Warum du ausgewählt worden bist, in Großbritannien, Tausende Kilometer von deiner wahren Heimat entfernt, zu leben? Weil wir es so wollten.«
»Warum?«
»Damit du in Sicherheit bist. Um dich vor Feinden zu verstecken, von denen wir wussten, dass sie eines Tages nach dir suchen würden.«
»Ich hatte einmal einen Unfall. Ein weißer Lieferwagen…« Scarlett wusste nicht genau, warum sie ausgerechnet jetzt daran dachte, aber sie war plötzlich sicher, dass es eine Verbindung gab. Sie
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