Hoellenpforte
Sie hatte eine grauenvolle Wunde in der Brust, wo der Degen ihr Herz durchbohrt hatte. Scarlett zwang sich, auch den Rest ihres Körpers anzusehen. Sie sah etwas Dickes, Grünes an der Stelle aus der Jacke kommen, wo Mrs Chengs Hals hätte sein müssen. Er war in der Mitte durchtrennt worden, aber er gehörte nicht zu einem menschlichen Körper. Er sah eher aus wie ein Teil von einer Schlange.
Und der Kopf, der auf dem Weg lag, war auch nicht menschlich. Es war der Kopf einer übergroßen Echse mit gelben Augen, diamantförmigen schwarzen Pupillen, Schuppen und einer heraushängenden gespaltenen Zunge. Scarletts Blick fiel wieder auf den Körper. Im Fallen hatte Mrs Cheng einen Arm ausgestreckt. Auch er war mit Schuppen bedeckt.
Ein Gestaltwechsler.
So hatten sie sie genannt. Im Schock des Augenblicks konnte Scarlett nur an eines denken – war das die Kreatur, mit der sie seit ihrer Ankunft in Hongkong zusammengelebt hatte? Audrey Cheng hatte für sie gekocht. Sie hatten in derselben Wohnung geschlafen. Und die ganze Zeit…
Scarlett hatte Angst, sich übergeben zu müssen. Sie bekam die widerlichen Bilder nicht aus dem Kopf. Aber dann war plötzlich ein Motorengeräusch zu hören, das schnell näher kam. Waren sie entdeckt worden? Die beiden Männer und die Frau rührten sich nicht. Sie sahen auch nicht alarmiert aus. Scarlett entspannte sich. Wer immer da kam, war Teil des Plans.
Ein Motorrad kam um die Ecke geschossen. Es war eine silbergraue Honda, deren Fahrer einen schwarzen Lederanzug, Handschuhe und Stiefel trug. Scarlett vermutete, dass es ein Mann war, aber ganz sicher war sie nicht, weil das Visier seines Helms verspiegelt war. Er stoppte direkt vor ihnen und ließ die Maschine zur Seite abkippen, bis er sie mit einem Fuß auf dem Boden abstützen konnte.
Die Frau griff wieder nach Scarlett. »Wir müssen dich schnell von hier wegbringen«, sagte sie. »Für lange Erklärungen haben wir keine Zeit.«
»Wohin bringen Sie mich?«
»An einen sicheren Ort.«
Sie hielten ihr einen Helm hin. Scarlett zögerte, aber nur eine Sekunde. Die Leiche von Audrey Cheng sagte ihr alles, was sie wissen musste. Sie hatte in einem Albtraum gelebt und diese Leute, wer immer sie auch waren, befreiten sie daraus. Sie griff nach dem Helm, setzte ihn auf, stieg hinter dem Fahrer auf das Motorrad und legte die Arme um ihn. Sofort schoss die Maschine los. Sie spürte die Kraft des Motors unter sich, als sie den Weg hinunterrasten, und verstärkte ihren Griff, weil sie Angst hatte, vom Fahrtwind heruntergeweht zu werden.
Sie schossen an einem Mann mit einem Hund vorbei, dann an einer Familie, die sich für ein Foto aufgestellt hatte und in alle Richtungen auseinander sprang, um sich vor ihnen in Sicherheit zu bringen. Dann bogen sie um eine weitere Ecke. Wenn sie noch weiterfuhren, würden sie wieder an der Haltestelle landen, an der Scarlett aufgebrochen war. Auf einer Seite lag ein kleiner Park, auf der anderen die Zufahrt zu einem der wenigen Häuser, die es hier oben auf dem Peak gab. Aber dort fuhren sie nicht hin. Scarlett entdeckte ein geparktes Auto, an dem zwei Männer warteten. Hier kam das Motorrad schlitternd zum Stehen.
Sie stieg ab und streifte hastig den Helm vom Kopf. Beide Männer waren jung, um die zwanzig, und trugen Jeans und Sweatshirts. Der eine war Chinese, der andere vielleicht Japaner oder Koreaner. Beide eilten auf sie zu, im Gesicht eine Mischung aus Entschlossenheit und Angst.
»Du musst mit uns kommen«, sagte der eine. Er hatte ein schmales Gesicht und seine Nase und seine Wangenknochen waren so scharfkantig, als wären sie aus Papier gefaltet worden. »Wir müssen sofort aufbrechen.«
»Wohin fahren wir?«
»An einen sicheren Ort.« Genau das Gleiche hatte die Frau auch gesagt. »Nicht weit. Vielleicht zwanzig Minuten.«
»Einen Moment mal…«
»Keine Zeit.« Er sprach nur gebrochen Englisch und spuckte die Worte förmlich aus. »Du willst sterben, dann bleib hier. Stell deine Fragen. Du willst leben, steig ins Auto. Sofort! Die werden bald hier sein.«
»Wer wird bald hier sein?«
»Gestaltwechsler. Oder Schlimmeres.«
Der andere Mann war schon zum Auto gegangen. Aber er hatte nicht die Tür geöffnet, sondern den Kofferraum.
»Sie glauben doch nicht, dass ich da einsteige!«, sagte Scarlett.
»Du musst«, verlangte der Mann mit dem dünnen Gesicht. »Du darfst nicht gesehen werden. Keine Angst. Wir machen Luftlöcher…«
»Nein!« Das war zu viel verlangt. Es war Scarlett
Weitere Kostenlose Bücher