Höllenschlund
die Augen.
»Ich glaube, dass wir alle für die Konsequenzen unseres Verhaltens verantwortlich sind. Wenn Sie im zehnten Stock aus dem Fenster springen, wird die Folge Ihr Tod sein.«
»Das ist natürlich richtig. Unsere Taten beeinflussen unser Leben schon. Aber ich möchte Sie nach den unergründlichen Kräften fragen, die mich dazu bringen, aus dem Fenster springen zu
wollen
.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Carina.
»Das ist sehr schwer in Worte zu fassen. Es wäre leichter, wenn ich es Ihnen zeigen könnte.«
»Bleibt mir eine andere Wahl?«
»In diesem Fall nicht«, sagte er und erhob sich von seinem Platz. Er drückte den Zigarillo in einem Aschenbecher aus, trat um den Tisch herum und zog ihren Stuhl zurück. Dann führte er sie zur Porträtgalerie.
»Das sind einige meiner Ahnen«, sagte Baltazar. »Erkennen Sie die Familienähnlichkeit?«
Carina betrachtete die vielen Gemälde, die an den Wänden des großen Raumes hingen. Die meisten Männer hatten sich in dekorativen Rüstungen malen lassen. Während sich die Gesichter physisch oftmals stark unterschieden, hatten aber viele, einschließlich der Frauen, das gleiche wölfische Funkeln in den Augen, das sie auch an Baltazar kannte, als wären gewisse Raubtierinstinkte mit ihren Genen weitergegeben worden.
»Ja«, sagte sie. »Es gibt tatsächlich eindeutige Familienmerkmale.«
»Diese hübsche Maid hier war zum Beispiel eine Gräfin«, sagte er und ging zu einem Gemälde im Stil des achtzehnten Jahrhunderts, das eine junge Frau zeigte. »Sie ist etwas ganz Besonderes.«
Er hielt das Gesicht wenige Zentimeter vor das Porträt und drückte die Hände auf beide Seiten des geschnitzten Rahmens.
Carina dachte schon, er würde das Bild küssen. Als er ihren verwunderten Gesichtsausdruck bemerkte, erzählte er ihr von einem verborgenen Computersystem, das seine Retina und die Handabdrücke scannte. Dann führte er sie die Treppe hinunter bis zu der Stahltür mit dem Kombinationsschloss.
Die Tür schwang auf. Carina blickte erstaunt auf die gläsernen Schränke, die an den Wänden aufgereiht waren. »Das sieht wie eine Bibliothek aus«, sagte sie.
»In diesem Raum befindet sich das Familienarchiv der Baltazars. Diese Bände enthalten unsere ganze Geschichte, die mehr als zweitausend Jahre zurückreicht. Es ist eine Sammlung von Intrigen, die in jener Zeit in Europa und Asien gesponnen wurden.«
Er ging zum hinteren Ende der Bibliothek und öffnete eine weitere Tür. Dort nahm er eine Fackel aus einem der Wandhalter und entzündete sie mit seinem Feuerzeug. Der Schein der Flammen erhellte die Steinwände eines kreisrunden Raumes. Carina trat hinein und sah die Statue, die ihr auffordernd die Arme entgegenstreckte.
»Großer Gott! Was ist das?«
»Eine uralte Opferstatue. Sie befindet sich seit Jahrtausenden im Besitz meiner Familie.«
Sie musterte die spitze Nasen- und Kinnpartie und den lüstern grinsenden Mund. Alles wirkte durch die tanzenden Schatten der flackernden Fackel noch extremer.
»Sie ist
grässlich
.«
»So könnten manche Menschen gewiss urteilen. Aber die Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Es ist auch gar nicht die Statue, die ich Ihnen zeigen wollte, sondern dieser Band hier.«
Baltazar steckte die Fackel in einen großen Metallständer und ging zum Altar hinauf. Er nahm den Deckel von der juwelenbesetzten Kiste und öffnete die Holzschatulle, die sich darin befand. Dann holte er die zusammengebundenen Pergamentblätter heraus.
Carina wollte Baltazar keine Genugtuung verschaffen, indem sie Interesse zeigte, aber sie konnte ihre Neugier nicht im Zaum halten.
»Das sieht sehr alt aus«, sagte sie.
»Fast dreitausend Jahre. Der Text ist in Aramäisch verfasst.
Diese Blätter wurden zur Zeit König Salomons beschrieben.«
»Wer ist der Autor?«, fragte Carina.
»Die Gründermutter der Familie Baltazar. Ihr Name ist jedoch nicht überliefert. Sie bezeichnet sich selbst als ›Priesterin‹ und wird auch von anderen so genannt. Möchten Sie hören, was sie geschrieben hat?«
Carina zuckte die Achseln. »Im Augenblick habe ich nichts Besseres zu tun.«
»Ich kann den Inhalt auswendig wiedergeben. Hier auf der ersten Seite stellt sie sich vor. Sie war eine heidnische Priesterin, die dann zu einer von Salomons Lieblingskonkubinen wurde. Sie gebar ihm einen Jungen, der Melqart genannt wurde. Wie ich bereits erwähnte, war Salomon ein launischer Mann. Danach verliebte er sich in Saba.«
»
Meine
Ahnin«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher