Höllensog
Gefühl.
»Im Moment kann ich mich nicht erinnern.«
»Aber Oleg Smirnow kennst du. Er ist mein Vater.«
In diesem Moment fiel es dem ehemaligen KGB-Agenten wie Schuppen von den Augen. Klar, er kannte Oleg, nur hatte er ihn lange nicht mehr gesehen, und er kannte auch dessen Sohn Gregor, der sich in den letzten Jahren allerdings verändert hatte und ein ziemliches Stück gewachsen war. »Himmel, natürlich, Gregor. Was willst du in Moskau? Wo ist dein Vater? Ist er auch hier?«
»Nein, aber um ihn geht es.«
Wladimir entnahm dem Tonfall der Stimme, daß etwas nicht in Ordnung war. Er spürte plötzlich ein Ziehen in der Magengegend, ein Zeichen, das auf Probleme hindeutete.
»Komm mit nach oben.«
»Danke.«
Im Lift schaute er sich den Jungen an. Ja, er war gewachsen, sein Gesicht war voller und männlicher geworden.
In den Augen mit den braunen Pupillen aber las Wladimir einen Ausdruck, der ihm überhaupt nicht gefallen wollte.
Es war die Furcht, die Angst vor der Gegenwart und sicherlich auch vor der Zukunft. So seltsam es anmutete, aber der Junge trug eine Kleidung, die nach einer weiten Reise roch. Er sah ziemlich abgekämpft aus und mußte lange unterwegs gewesen sein.
»Ein Bett werde ich für dich haben, Gregor, und auch etwas zu essen und zu trinken.«
»Danke.«
Golenkow fragte bewußt nicht nach den Sorgen des Jungen, das würde er in der Wohnung tun, da war Zeit genug. Im Flur war es leer. Es roch nur warm und stickig.
Wladimir mußte einige Schlösser öffnen, bevor er die Tür aufdrücken konnte. Zwei kleine Zimmer, ein Bad, dessen Einrichtung noch neu war, mehr brauchte Wladimir nicht. Der Kühlschrank war gut gefüllt, auch mit Getränken aus dem Westen, und Gregor war froh, endlich seine Cola schlürfen zu können.
Auch der Erwachsene gönnte sich einen Schluck. Die Zeit saß ihm im Nacken, er mußte ins Büro, doch als er Gregor gegenübersaß und in dessen Gesicht schaute, da trat der eigentliche Vorsatz immer weiter zurück, denn er sah dem Jungen an, daß er Sorgen hatte.
»Wie geht es Vater und Mutter? Als ich das letzte Mal bei euch war, erwartete deine Mutter ein Baby und…«
Plötzlich flössen die Tränen des Jungen wie Sturzbäche aus den Augen.
Wladimir erschrak nicht nur, er war der Situation auch nicht gewachsen und zeigte sich hilflos. Dann fand er ein Taschentuch und reichte es seinem jungen Besucher. Er sprach auch tröstende Worte, wußte aber nicht, ob Gregor sie überhaupt hörte.
»Du… du… hast gefragt, wie es meinem Vater und meiner Familie geht?« schluchzte er.
»Ja.«
»Nichts geht mehr.«
»Wie?«
Gregor hob den Kopf an. Er sah sein Gegenüber wie durch einen Schleier. »Wie ich gesagt habe, nichts geht mehr. Es gibt keinen mehr von ihnen. Sie sind nicht mehr da, verschwunden. Ich bin der einzige Einwohner des Dorfes…«
***
Eine Stunde später!
Wladimir Golenkow konnte sich nicht daran erinnern, in der letzten Zeit sprachlos gewesen zu sein. Es wollte ihm einfach nicht in den Sinn, daß diese Dinge, von denen der Junge berichtet hatte, tatsächlich passiert waren.
Doch warum hätte er lügen sollen?
Eines jedenfalls stand fest. Wladimir Golenkow wußte, daß er gebraucht wurde, und zwar dringender denn je, denn er war derjenige, der auch Fällen nachging, die mit normalen Methoden nicht zu klären waren, nur tanzte Wladimir auf zwei Hochzeiten zugleich, und die eine ›Hochzeit‹, die Atom-Mafia, wollte er zunächst einmal abhaken.
Er hatte schon mit seinem Büro telefoniert und erklärt, daß mit ihm nicht mehr zu rechnen war. Viel mehr brauchte er nicht zu erklären, seine Sonderstellung war bekannt, aber trotzdem kam er mit gewissen Tatsachen nicht zurecht.
Ein Dorf war geleert worden. Durch einen unheimlichen Vorgang, durch wen auch immer, durch einen Kometen, in dessen Schweif eine besondere Kraft lebte.
Das war schrecklich und zugleich unfaßbar.
Wladimir saugte den Rauch seiner Zigarette tief ein und blies ihn gegen die Decke, wo Fliegen einherspazierten.
»Du sagst nichts, Wladimir.«
»Manchmal bin auch ich sprachlos.«
»Das kann ich verstehen.« Gregor nickte. »Aber wirst du etwas tun? Ich habe mal mitbekommen, wie du mit meinem Vater gesprochen und ihm erklärt hast, daß du immer für ihn da bist, wenn einmal Not am Mann ist. Daß er sich dann auf dich verlassen könnte. Meinen Vater gibt es nicht mehr, und ich dachte, daß dieses Versprechen auch auf seine Familie ausgedehnt wird.«
»Keine Frage, Gregor.«
»Dann
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