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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly Arcan
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gelesen statt in ihren Karten, hätte sie gesehen, daß es da schon zu spät für mich war und das Unglück bereits seinen Lauf nahm, denn auf meinem Gesicht, das die Liebe verwandelt hatte, waren die Zeichen des Verlas-senwerdens schon zu erkennen, und meine Finger waren auf allen Fotos ineinander verschränkt, daß es wie ein Händeringen aussah.

    Einmal wolltest du mich nackt in der Wildnis des Waldes fotografieren, doch meine ausgebleichten Haare und falschen Brüste machten die Wirkung des gesucht Natürlichen zunichte. Ich bat dich, die Fotos zu löschen, weil ich Angst davor hatte, daß diese Fotos dich eines Tages anwidern könnten oder, noch schlimmer, zum Lachen reizen, du hast dich geweigert. Also tat ich es selbst, kaum daß du mir den Rücken zuwandtest, ich wüßte gern, ob du es irgendwann bemerkt hast.
    Wir balgten im Wald herum wie die Kinder, ich wollte dir weh tun, du mir nicht. Wir gingen über die Grenze des Grundstücks meines Großvaters Richtung Osten, bis zu den kleinen, schlammigen Flüßchen, die nach drei Kilometern in den Lac aux Araignees, den Spinnensee, münden. Ich erzählte dir von einem Abenteuer aus meiner Kindheit, erzählte, wie mein Vater und ich hier einmal mit dem Kanu stecken geblieben waren und zu Fuß den Heimweg antreten mußten, wobei ich auch noch meine Gummistiefel in dem zähen Schlick verlor. Ich erzählte dir, daß die Touristen den Spinnensee meiden, wahrscheinlich wegen seines Namens, dessen Herkunft unbekannt sei, du meintest, das läge vielleicht an der Form.
    Monate später hat mein Vater deine Vermutung bestätigt: Vom Flugzeug aus betrachtet, sieht der See mit den unzähligen Flüßchen, die in ihn münden, offenbar aus wie ein Haufen Spinnen.
    Bei unserer Rückkehr entdeckten wir im Sand der Baie des Sables die Fährte eines Tieres, die du sofort fotografiert hast, um deiner Familie in Frankreich zum ersten Mal seit fünf Jahren endlich einmal etwas Typisches zeigen zu können, nach der Größe der Tatzen mußte sie von einem Bären stammen. Ob der Bär wasserscheu war?
    Ob er sich womöglich in dem Gestrüpp zwischen den Flüßchen versteckte, aus dem wir gerade kamen? Ob wir ihm entwischen könnten, wenn er sich auf uns stürzte?
    Du wolltest mir nicht glauben, daß ich in meinem ganzen Leben noch keinen Bären gesehen hatte außer im Zoo.
    Wir mußten noch meine Eltern und meine Freunde be-suchen, wir mußten noch einen Ausflug zum Mont Me-gantic unternehmen, um von dort aus die Landschaft der Cantons de l’Est zu bewundern, aber mit jedem Tag verlorst du ein bißchen mehr die Lust. Während der viel zu kurzen Woche wurde dir die Vorstellung zunehmend unerträglich, daß ich eine Vergangenheit hatte, in der du nicht vorkamst, Familie, Freunde, die mich schon mit anderen gesehen hatten, das entzog mich deinem Zugriff, nahm dir etwas, das dir zustand. Zu diesem Zeitpunkt stand es noch unentschieden zwischen uns, die Liebe machte dich hilflos.

    Du hast mich in dieser Woche oft in die Finger gebissen, weil du gedacht hast, ich hätte Schlimmes im Sinn, daß du mir Schmerzen zufügtest, hat meinen Verrat noch gefördert; ich habe mich dafür verachtet, daß ich die Schmerzen mochte, und davon bekam ich erst recht Lust, dich zu verraten, um wieder gebissen zu werden.
    Du wolltest mich nicht arbeiten sehen in dieser Woche, ich durfte nicht an meiner Magisterarbeit schreiben, ja nicht einmal die Romane von Celine lesen, die du mitgebracht hattest, vielleicht weil du als Kind unter der Liebe deiner Mutter zu ihrem Hund Bicho so leiden mußtest, vielleicht weil dein Vater in den Tiefen des Universums nach dem Schatz des Lebens forschte, der doch in seinem Hause wohnte. Deinem Vater waren Menschen zu langweilig und zu klein, ins Schwärmen geriet er nur ob des jahrmillionenalten Kosmos mit seinen ungeheuren Massen entzündlicher Stoffe, die so prunkvolle Erscheinungen zeugten wie Sonnengewitter oder den großenroten Gasfleck, der wie ein riesiger Zyklon über den Jupiter zieht. Daß du eins neunzig groß warst, hast du mir er-zählt, sei ihm erst aufgefallen, als er einmal im Krankenhaus lag. Seit deiner Geburt verbrachte er fast seine gesamte Zeit hinter dem starken Teleskop, das ein Vermögen gekostet hatte, und für das Feuerwerk der Novae und Supernovae vernachlässigte er alles, vor allem dich; deshalb erwartest du heute totale Aufmerksamkeit und nimmst so viel Raum in Anspruch.
    Während der Zeit im Chalet und in den Wochen danach hast du mir Stück für

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