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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly Arcan
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Gerü-
    che ab. Über ihrer Leidenschaft für die Zukunft hatte meine Tante das feuchte, lichtlose Loch vergessen, in dem sie vor der Geburt herangereift war.
    Wenn ich heute daran zurückdenke, bin ich davon ü-
    berzeugt, daß die Zeit im Chalet für mich auch danach noch weiterging, wahrscheinlich dauert sie bis heute an.

    *

    In dieser Woche hattest du nie den Wunsch, deine Umarmung zu lockern, noch auf dem Rückweg wolltest du, daß ich während der Fahrt nach Montreal meinen Kopf in deinen Schoß lege. Ich mußte dabei an einen Film denken, in dem die Beifahrerin dem Fahrer einen bläst, woraufhin der einen Unfall baut. Bestimmt zieht sein ganzes Leben an ihm vorüber, bevor er stirbt, vom Aus-blasen der Kerzen auf den ersten Geburtstagstorten bis zu dem Punkt, an dem er sich in einer gewaltigen Entladung mit dem Auto überschlägt und endgültig den Lenker abgibt. Wenn Gott den Menschen die Möglichkeit eröffnet, im Augenblick des Todes die Bilanz ihres Lebens zu ziehen, dann will er ihnen wohl die wahren Dimensionen vor Augen führen, denn was ist ein Leben, dessen prä-
    gnante Erinnerungen im Bruchteil einer Sekunde vor einem abschnurren können, angesichts des Universums?
    So gewinnen die Menschen auch Einsicht in ihr Scheitern, und manchmal scheint ihnen dann das ewige Schmoren in der Hölle, das sie erwartet, gar nicht mehr so ungerecht, meinte jedenfalls mein Großvater. Ob wir beide uns nach einer so kurzen Begegnung in einer letzten gemeinsamen Erinnerung wieder gefunden hätten, wenn wir auf der Autobahn Nr. 10 den Unfalltod gestorben wären? Während der Fahrt überlegte ich, was bei einem Frontalzusammenstoß mit mir passieren würde. Ob das Auto mich verschlingen würde, wenn ich auf die Pedale zu deinen Füßen fiele, so daß mein Körper, von da an mit dem Auto zu einem Block verschmolzen, im Beerdigungsinstitut wie verbogenes Metall im geschlossenen Sarg liegen würde? Im nachhinein erschien mir dieser Moment wie eine verpaßte Gelegenheit.
    Ich dachte, du fragst mich, ob ich dir einen blase während der Fahrt auf der Autobahn Nr. 10, aber die Bitte blieb aus. Dafür hast du mir von Zeit zu Zeit den Finger in den Mund gesteckt, vielleicht eine Art Kompromiß. Drei volle Stunden lang hast du von deinem Vater erzählt und von seinem Hang zu den Sternen. Ich staunte, als du behauptetest, er habe sich nie für eine andere Frau als seine eigene interessiert, du konntest es selbst kaum glauben. Da hätten bei mir sämtliche Alarmglocken schrillen müssen, das hieß nämlich, daß du das unstete Wesen der Männer im Grunde für unabänderlich hieltest.
    Ich dachte damals, du könntest mir treu sein, weil ich noch nicht wußte, daß dein Wille, den Vater zu ärgern, indem du zu seinem Gegenteil wurdest, die fünf Jahre, die der Atlantik nun zwischen euch lag, unbeschadet überstanden hatte. Dabei warst du jedesmal, wenn du von ihm sprachst, genau wie er, mit einem Schlag entstand eine große Distanz um dich, du verlorst alles aus den Augen, dein Blick schweifte in die Ferne, als entrisse die Erkenntnis des stellaren Raums dich der irdischen Welt, und du hobst in deiner ganzen Größe ab. Ich frage mich heute, ob dein Vater womöglich einmal Gott begegnet ist irgendwo zwischen den Sternen. Mein Großvater sagte, Gott zu sehen macht blind für den Rest, wie wenn man ohne Schutzbrille eine Sonnenfinsternis betrachtet, der Blick wird von schwarzen Flecken durchlöchert, und rundherum gibt es nur noch tote Winkel.

    In den ersten Wochen nach unserer Begegnung machte ich dir angst mit meiner Vergangenheit als Hure und meiner Gegenwart als Schriftstellerin. Meine Erfahrung und mein Erfolg schufen eine Distanz zwischen uns.
    Deine Freunde waren sich einig, als ich auftauchte: Schon wieder so ein Biest, sagten sie und stellten Ver-gleiche mit Nadine an. Zumindest quantitativ hielten sie mich für überlegen, wegen meiner Huren-Vergangenheit.
    Ich habe erst viel später begriffen, was deine Freunde eigentlich meinten. Sie kannten dich nur zu gut und wußten aus Erfahrung, daß du auf eine Frau erst dann aufmerksam wirst, wenn sie den Ruf hat, sich an deine gesamte Umgebung zu verschenken. Deshalb hast du von mir als Schlampe geträumt, die dich kraft ihrer Natur fallenlassen oder dich erniedrigen würde wie Nadine, die im Bily Kun vor deinen Augen andere Männer küßte und hinter deinem Rücken wieder mit ihren zahlreichen Ex-Liebhabern anbändelte, die nach ihr nie mehr eine andere finden konnten, wie sie

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