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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly Arcan
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Stück alles genommen, wor-
    über ich in Gesellschaft hätte sprechen können. Das war nicht so schlimm, denn in dieser Phase meines Lebens machte ich ohnehin nichts, nicht einmal schreiben, außer einer Magisterarbeit über die Krankheit des Senatspräsi-denten Schreber, jenes deutschen Beamten, der seinen Wahn protokollierte, wobei ich Probleme mit der Syntax hatte, die das Gerüst meiner Thesen zum Einsturz brachten. Das ärgerte meine Professorin, eine Anhängerin Lacans, für die sprachliches Chaos mit geistiger Verwirrung einherging. Sie allein wußte, daß ich, was das Schreiben anging, eine Schwindlerin war. Schreiben verpflichtet. Immer wundern sich alle, wenn ich die passenden Worte nicht finde und einen Satz nicht vollende, das sollte man von einer Schriftstellerin doch erwarten können, und wenn ich die Wörter nicht richtig verbinde, fällt es auf, weil ich bereits ein Buch veröffentlicht habe. Als Schriftstellerin hat man eine große Verantwortung gegenüber der Sprache, da muß man schon in der Lage sein, sich auszudrücken.

    Deine Anwesenheit in diesem Sommer blieb nicht unbemerkt, meine Freundinnen waren von deiner Schönheit allesamt beeindruckt. Sie freuten sich für mich, ausnahmslos, selbst Josée, die sonst an meinen Männern immer etwas auszusetzen hatte. Ich hätte schon alles gehabt, fanden sie, Geld und Zeit, um mich zu amüsieren, Reisen in den Süden und gebräunte Haut, Schifahren und Essen im Restaurant, einen runderneuerten Körper und einen Friseur von GLAM, das einzige, was mir noch fehlte, war die Liebe, das stand mir nun einfach zu. Ich hatte kein schweres Leben gehabt, mir fehlte nur etwas: eine Beziehung mit Schmetterlingen im Bauch, Zu-kunftsplänen und geteilten Haushaltspflichten in einem Loft über dem Plateau Mont-Royal. Meine Freundinnen waren alle eifrige Leserinnen von Modemagazinen; mein Glück schläferte ihre Wachsamkeit ein, Liebe hatte für sie nichts mit Lebensgefahr zu tun. Sie waren normal, sie lebten mit einem Mann zusammen, die meisten seit Jahren, manche hatten sogar Kinder und dazu noch eine Karriere und ihre Liebhaber. Wir beide waren Outsider, ich als ehemalige Hure, du als freier Journalist.
    Du warst drei Jahre jünger als ich und hast mich doch überragt; wenn du in einen Raum kamst, drängtest du mich automatisch in eine Ecke. Du konntest mit einer Hand mein ganzes Gesicht bedecken, und wenn du mit beiden Händen meine Taille umfaßt hast, trafen sich deine Zeigefinger in meinem Rücken. Du warst von diesem ungleichen Verhältnis entzückt, weil es dich hervorhob und noch größer erscheinen ließ.
    Es gab eine Karte im Tarotspiel meiner Tante, die Kraft, darauf war eine Frau, die mit den Händen das Maul eines Löwen aufhält. Ich kann mich nicht erinnern, daß diese Karte einmal dabei war, wenn meine Tante mir die Karten legte. Nach zahllosen vergeblichen Bemühungen, irgend etwas aus den vor ihr liegenden 22 Karten herauszuholen, hat sie sich einmal für den umgekehrten Weg entschieden und versucht, aus der Abwesenheit bestimmter Karten Schlußfolgerungen zu ziehen. Daß die Kraft fehlte, ließ ihrer Ansicht nach immer noch vieles im Ungewissen, doch daß ich keine Dompteuse war, stand zweifelsfrei fest. Die Kraft steht für die Beherr-schung jeder Situation durch Kühnheit und Können, für Gewandtheit, wenn die Welt um einen herum zusammenbricht, sie ist aber auch eine Art Maulkorb, sie zügelt den Überschwang.
    Du hättest im Tarot gut als Papst oder Herrscher auftreten können, das Eisblau der liliengeschmückten Gewänder hätte dir sicher gut zu Gesicht gestanden, oder als Turm, der so oft in meinen Karten lag, daß er mit der Zeit seinen Schrecken für mich verlor, man sieht darauf einen Turm, der gerade zusammenbricht und Steine durch die Gegend schleudert. In der Kartomantie meiner Tante hieß er auch das Haus Gottes, aber er war keine Kirche, sondern eine gegen die Menschheit gerichtete Waffe, eine Bombe oder ein Vulkan, er symbolisierte den göttlichen Zorn, der sich mit aller Macht über den Häuptern der Menschen entlud. Der Turm kündige stets eine unerklärliche, unermeßliche Katastrophe an, die von oben kom-mend auf die Erde einstürze, behauptete meine Tante, einen Act of God. Sie wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, daß der Turm für einen geliebten Menschen stehen könnte, Liebe war für sie ein leichtes, luftiges Gefühl, das strahlend zum Himmel schwebte, allenfalls löste sie sich auf und sonderte dabei unangenehme

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