Hoerig
abzufinden, währenddessen solle ich mich um ihn kümmern und ihn mit Schmerzmitteln und heißen Wärmflaschen versorgen.
Ich verstehe, sagte ich, weil ich das kannte, mein innerer Widerstand hatte in der Vergangenheit schon öfter zu fehlerhaften Wahrnehmungen geführt. Nach deinem Abgang zum Beispiel wachte ich wochenlang nachts mit dem Gefühl auf, bei dir zu sein, tastete im Bett vergebens nach deinem Körper und konnte bis zum Morgen nicht schlafen, die schmerzliche Erinnerung an deine Abwesenheit hielt mich wach. Ich kämpfte oft mit der Decke und fand mich schließlich auf deiner Seite des Bettes wieder, einmal hob ich weinend die Arme zum Himmel, weil ich geholt werden wollte. Zwischen mir und der Realität bestand ein großer Altersunterschied. Als ich zum Ausgang der Klinik gebracht wurde, wurde mir gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen, die Reste seien nicht mehr und nicht weniger als die Regelblutung, sie seien nur so gefühlsbeladen, daß sie mein Gewissen belasten könnten. Drei Tage lang saß ich zu Hause und wartete auf die Reste, und nach drei Tagen kamen sie auch, wie angekündigt. In meiner Einsamkeit sah ich das als Besuch an, es war, als wäre ich nicht mehr ganz so allein, ich muß dazu sagen, daß unsere Geschichte für mich im Alltäglichen ausklang. Ich redete laut mit dir in meinen vier Wänden, ich warf dir dein Schmollen vor.
Ob diese Geschichte je endet? Oder werde ich auch nach meinem Tod an diese Orte gebunden bleiben? Das wird ja in allen Gespensterfilmen behauptet, daß die Geister der Verstorbenen noch etwas zu erledigen hätten aus ihrem früheren Leben, weil sie auch im Jenseits ihren Sinn für irdische Gerechtigkeit bewahrten. Wenn ich kann, werde ich es dir heimzahlen, ich werde durch dein Zimmer geistern, die Frauen verschrecken und mich in deinem Gehirn einnisten, ich werde deine Gedanken umleiten und neue Verknüpfungen erstellen, bis sie am Ende alle zu mir führen, es wird dir noch leid tun, daß du auf der Welt bist.
Als die starken Krämpfe kamen, die kleine schwarze Bröckchen zwischen meinen Beinen heraus preßten, saß ich vor dem Fernseher und sah eine Episode von Akte X, in der die Agenten Mulder und Scully ein Geisterschiff aus dem zweiten Weltkrieg besteigen, dessen Passagiere schon seit Jahrtausenden tot sind. Kaum sind Scully und Mulder auf dem Schiff, altern sie pro Tag um hundert Jahre, und wenn man sie am nächsten Tag nicht rechtzeitig gefunden hätte, wären sie an vorzeitiger Altersschwä-
che gestorben. Aber erst einmal gehen sie in aller Ruhe ihrer Arbeit nach, und beim Blättern im Logbuch des Kapitäns fällt ihnen auf, daß das Schiff in einer Zone des Globus Schiffbruch erlitten hat, die kein Geograph je erfaßt hat, einer Art schwarzem Loch mitten im Atlantik.
Im Nirgendwo gefangen, müssen Scully und Mulder erkennen, daß die Erde einen schwarzen Kontinent trägt, der für Menschen tabu ist, dann haben sie herumgerech-net, um eine Erklärung zu finden, und sind auf die Namen der Teilchen gekommen; es war für sie durchaus denkbar, daß die Erde über waffenstarrende Elemente verfügt, die jeden vernichten, der ihre Geheimnisse ans Licht zerren will, die Materie selbst kann zu ihrem Schutz feindselig sein.
Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich die Neigung, etwas, das aus mir herauskam, zu bewahren. Es soll ja Frauen geben, die sich in ihrer Verzweiflung über den Verlust des Babys auf Haustiere oder Puppen verlegen, sie im Kinderwagen durch öffentliche Parkanlagen schieben und vor Fremden über deren Ähnlichkeit mit dem Vater schwadronieren.
An diesem Abend mußte ich so sehr an dich denken, daß ich dich fast angerufen hätte, doch was sollte ich dir sagen, und welche Antwort würde ich erhalten? Ob du zu mir kommen würdest, um von einem Teil deiner selbst Abschied zu nehmen? Dann fiel mir ein, daß du Abschiede nicht mochtest, weil sie leicht in Tränen münden und zu Szenen oder Dramen werden, in die sich womöglich noch Zeugen einmischen. Da dachte ich, daß dein Be-dürfnis, Haltung zu bewahren, von deinem Vater herrühren muß, der in dem großen Abstand der Sterne untereinander ein Zeichen von Erhabenheit sah; ihr unzugängliches Sein war die Grundbedingung seiner Verehrung. Als er einmal beim Abendessen erklärte, das Universum bestehe im wesentlichen aus dunkler Materie, die sich sogar den Teleskopen der NASA entziehe, und die Milchstraße brauche zweihundert Millionen Jahre für eine einzige Umdrehung, entstand ein
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