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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly Arcan
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verschwand die Inderin, und ich sah sie nie wieder, sie hatte vielleicht gespürt, daß ich Angst vor ihr hatte.
    Bevor ich die Klinik verließ, fragte mich eine Kran-kenschwester, ob es mir gut gehe, und als ich ja sagte, fragte sie noch einmal nach, ob es mir gut gehe, nicht nur hier und jetzt, meine sie, sondern überhaupt, sie mache sich Sorgen, weil niemand mich begleitet habe und ich allein nach Hause gehen müsse. Sie befürchtete wohl, wenn ich so ginge, ohne das Baby, sei ich mir selbst zu sehr ausgeliefert und könne mich in der plötzlichen Leere verlieren wie dein Vater bei seinen Besichtigungen im Universum.
    Ich fuhr mit dem Taxi nach Hause und nahm wie üblich mein Telefon mit ans Bett, um keinen Anruf zu verpassen. Ich wartete wie üblich, daß du anriefst, obwohl ich dich an dem Tag, wo du gingst, gebeten hatte, es nie wieder zu tun. Vermutlich glaubte ich in dem Moment, daß mein Verbot dich stutzig gemacht haben müßte, es hätte dir wie ein Alarmsignal vorkommen müssen, das dich an deine Pflicht erinnert, auf mich aufzupassen. Vermutlich hielt ich die Verbindung zwischen uns für so stark, daß du am anderen Ende des Plateau Mont-Royal hättest spüren müssen, wie ich dich an diesem Tag zum zweiten Mal verlor.

    Ich wüßte gern, was du dazu gesagt hättest, wenn dir bekannt gewesen wäre, daß ich im letzten März von dir schwanger war. Ich wüßte gern, ob deine Stimme anders geklungen hätte, noch französischer vielleicht, ob du dich von mir zurückgezogen hättest oder gestottert vor Unbehagen, wie es dir in Gegenwart wichtiger Männer manchmal passierte. Wenn man einer Frau, die man nicht mehr liebt, ein Kind macht, spricht man nicht darüber, das ist so peinlich wie Impotenz, so etwas schweigt man tot. Dir war ja so gut wie alles peinlich, wenn irgendein Hund dir auf der Straße den Schritt leckte zum Beispiel oder wenn ungezogene Kinder dich in der Metro zu lange anstarrten.

    Ihre Schamlosigkeit hat dich gestört, nie im Leben würdest du eins auf den Schoß nehmen, hast du gesagt. Mein erstes Buch war dir peinlich, weil es aus dem Bauch kam und zu offenherzig war, und wenn Leute öffentlich heulten, war dir das auch peinlich. Dein Unbehagen war so groß, daß du ständig darüber reden mußtest, du hast die Quebecer bewundert für ihre Ungeniertheit und ihre Gewandtheit in peinlichen Situationen, sie seien spontan und ohne Allüren. Du glaubtest an diesen französischen Mythos, daß die Quebecer dem Instinkt und der Erde näher sind und von eher dörflicher Gemütsart, daß sie ein schlichtes, von guten Manieren weitgehend unbelastetes Leben leben, und daß die Frauen schöne Wilde sind, die von sozialem Aufstieg träumen und deshalb für die Franzosen schwärmen.
    Vor dem Verlassen der Abtreibungsklinik wurde mir erklärt, daß es in den nächsten zwei, drei Tagen zu Blu-tungen kommen würde, die Gebärmutter stoße die von der Ausschabung nicht erreichten Reste ab. Ich schloß daraus, daß das Baby noch drin war; in der Vergangenheit soll es ja Fälle gegeben haben, wo sich die Föten hartnäckig ihrer Entfernung widersetzten, sich einfach in ihren Müttern festkrallten und es im späteren Leben noch weit brachten. Angesichts massenhafter Abtreibungen in den westlichen Ländern konnten die Föten ja eine Ca-mouflage-Technik entwickelt haben, um sich im Bauch der Mütter zu verstecken, unsichtbar für medizinische Geräte und damit dem ärztlichen Zugriff entzogen. Sogar die primitivsten Organismen, behaupten Wissenschaftler, haben eine Überlebensintelligenz und passen sich durch entsprechende Anstrengungen selbst den feindlichsten Umgebungen an. Ich wüßte gern, ob ich in einer Welt ohne dich auch gegen meinen Willen überleben würde.
    Ich habe gefragt, warum man nicht gleich nach der Abtreibung blutet, es könne doch nicht so lange dauern, bis die Wunden schmerzten. Der Schock eines Eingriffs von außen, wurde mir erklärt, führe zu einer Art Zeitver-schiebung zwischen Leib und Seele, in diesem Fall begreife der Uterus erst nach ein paar Tagen, daß er nichts mehr zu nähren habe, dann wisse er nicht mehr weiter und gebe auf. Der dem Leben verbundene Körper ticke manchmal anders als wir. Ich müsse einige Wochen lang mit unkoordinierten Hormonschüben rechnen, da der Körper vom Schmerz über das plötzliche Verschwinden des Babys ganz verwirrt sei und unsinnige Dinge tue, sich gehen lasse und den Kontakt zur Welt abbreche. Er brauche Zeit, um sich mit der Wirklichkeit

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