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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly Arcan
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war sie deshalb so groß, weil deine Gene es verlangten. Ich dachte auch, sie hätten mich belogen in der Klinik, dieses Blut sei kein Regelblut, sondern echtes Fleisch, und wenn ich mich heute daran erinnere, finde ich, es sah ein wenig nach Knochenmark aus. Wenn ich noch verrückter gewesen wäre, hätte ich es gegessen.
    An diesem Abend habe ich viele Dinge verstanden, zum Beispiel, daß es keine Seele gibt und daß die Menschen sich viele Geschichten ausdenken, um aufrecht in den Tod zu gehen. Früher hat man für seinen Platz im Paradies im voraus bezahlt, heute läßt man sich einfrie-ren, um auf den Tag der Wiederauferstehung zu warten.
    Wenn es ein Leben jenseits des Todes gäbe, hätte am Abtreibungstag der Wind draußen geheult, und die Glüh-birnen in meiner Wohnung wären zersprungen, um den begangenen Frevel mit schwarzer Nacht zu verhüllen, die Türen hätten krachend auf- und zugeschlagen, und die Schränke hätten ihren Inhalt auf den Boden erbrochen.
    Die Seele des Babys, das von dir kam, hätte sich die Materie Untertan gemacht und mich deine Stimme hören lassen.
    An diesem Abend machte ich es wie kleine Kinder mit ihrem Geburtstagskuchen: Ich griff mit beiden Händen hinein; dann malte ich ein Tic-Tac-Toe auf den Boden und spielte Erhängen. Hätte mein Großvater mich so sehen können, er wäre zum zweiten Mal gestorben.

    *

    Mein Großvater sagte, Gott habe zwischen Männern und Frauen sehr viel Raum gelassen für sich selbst, doch gegen Ende der Aufklärung habe sich dieser Raum als so groß erwiesen, daß er darauf verzichtet habe, ihn zu bewohnen, weil er sich darin nicht wieder finden konnte.
    Dank seines Kraftakts sei Gott schließlich durch die von ihm selbst geschaffenen Ereignisse überrollt worden, sagte mein Großvater, deshalb habe er den Menschen die nuklearen Mittel zu ihrer Ausrottung in die Hand gegeben. Das Problem des Raums zwischen Männern und Frauen, sagte mein Großvater, sei über die Jahrmillionen der Menschheitsgeschichte ungelöst geblieben, doch vom Grund der steinzeitlichen Höhlen bis zu den Spitzen der höchsten Wolkenkratzer sei der menschliche Wille, ihn zu verringern, so sehr gewachsen, daß wahrscheinlich eins der beiden Geschlechter am Ende das andere schluk-ken würde, früher sei im Krieg der Völker die Einverlei-bung des Gegners in der primitiven Form des Kanniba-lismus ja keine Seltenheit gewesen. So würde in naher Zukunft eines der beiden Geschlechter zur Legende werden, sagte mein Großvater, doch da er stets Vorsicht walten ließ, wollte er sich nicht auf das stärkere Geschlecht festlegen, in dem fortgeschrittenen Chaos, in dem wir lebten, konnte es jedes von beiden sein.

    Schon nach ein paar Monaten großer Liebe haben wir uns voneinander entfernt, allerdings nicht symmetrisch, ich klammerte mich an dich. Um dich zu halten, benahm ich mich mir gegenüber genau wie du, ich zog mich von mir zurück, fing an zu trinken, und abends, wenn ich allein zu Hause war, machte ich mir Vorwürfe und drohte mir mit dem Verlassen. In dieser Zeit war ich nachts nicht mehr so schrecklich in deinen Träumen, weil du gar keine Träume mehr hattest. Überhaupt hast du selten geträumt in deinem Leben, hast du gesagt, deshalb seist du beim Aufwachen oft so schlecht gelaunt, du fühltest dich betrogen, wenn du die nächtlichen Bewegungen deines Geistes morgens nicht mehr ins Bewußtsein zurückholen könntest; daß bestimmte Informationen auf ewig in deinem Gedächtnis verloren waren, fandest du deprimie-rend.
    Was deine Träume aus unserer Anfangszeit betraf, hatte ich dir ja schon tausendfach bewiesen, daß ich im Grunde genommen ein nettes Mädchen war wie Annie, die dir niemals weh tun würde. Im Bily Kun zum Beispiel sprach ich nie mit Fremden und lehnte jede Einladung auf einen Drink ab, ich überließ dir die Entscheidung, wann wir gingen, und wenn du woanders hinwolltest, kam ich mit. Der Grund für meine Treue war, glaube ich, nicht Liebe, sondern Feigheit. An einem Abend wollte ich nach Hause, um dir die Stirn zu bieten, doch unterwegs verlor ich den Mut und kam ins Bily Kun zurück, ich schämte mich, und als du gefragt hast, wo ich war, sagte ich, Zigaretten holen, ich hatte tatsächlich welche gekauft, um nicht als Lügnerin dazustehen, falls du später eine von mir haben wolltest. Damals hast du damit angefangen, mir lang und breit von Nadine und ihren kleinen Verrätereien zu erzählen und mich an ihrer Statt zu ficken. Ich frage mich, ob zwischen meiner

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