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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly Arcan
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Rhythmus auf und hämmert mir in den Bauch, ich soll ihm meine Mahlzeiten schicken, und kaum ist es auf der Welt, hat es sicher jedes Interesse an mir verloren. Ich dachte, da das Kind von dir ist, wird es mich verlassen.
    Dann hatte ich Angst, daß es so wird wie ich, daß es keine Zukunft hat, daß es schließlich, seiner selbst überdrüssig, nach deiner maßlosen Größe sucht und du es fallenlassen könntest. Ich hatte Angst, daß es erdrückt wird von deiner Umarmung, die seine Mutter unauslöschlich in ihrem Herzen trägt, ich hatte Angst, daß ich ihm zu deinem Namen auch deinen Vornamen gebe.
    Am Ende hatte ich Angst, daß nichts aus ihm wird, daß es vor der Zeit an Kummer stirbt, anscheinend können Kinder sich zu Tode hungern im Bauch der verlassenen Mutter, wenn sie nicht aus ihrem Schockzustand heraus-kommt, brechen sie einfach den Kontakt ab, indem sie mit ihren kleinen Händen die Nabelschnur herausreißen, wie Pferde sich die Venen aufbeißen im Zustand äußerster Erregung, anscheinend lieben Kinder ihre Mutter so sehr.

    Vor der Operation setzte man mich davon in Kenntnis, daß man mir den Inhalt meiner Gebärmutter danach nicht aushändigen könne, das sei vom Gesetz nicht erlaubt.
    Einige Frauen wollten das, um eine religiöse Zeremonie abzuhalten, einen von ihnen erfundenen Ritus für die vor der Geburt verstorbenen Kinder, den die Kirche nicht vorsah, ich fragte mich, ob sie alles verbrennen und die Asche aufheben wollten. In diesem Stadium ist das Kind anscheinend wie ein kleiner weißer Wattebausch; ob man es aus seinem Blutbad holen und zwischen den Seiten eines Buches trocknen könnte wie ein herbstliches Blatt?

    Als ich klein war, machte ich Lesezeichen aus nicht geschluckten Hostien, und als mein Großvater mich erwischte, regte er sich furchtbar auf; er ballte die Fäuste und brüllte, das sei nicht nur eine Profanierung, sondern eine schändliche Verschwendung, während überall auf der Welt Kinder verhungern, die sich nach der Gegenwart Christi in ihrem Herzen verzehren.
    Bevor ich in den Operationssaal kam, wurde ich gefragt, ob ich mir meine Entscheidung auch reiflich überlegt hätte. Ich sagte, daß sich die Frage nach einer Entscheidung für Personen wie mich gar nicht stelle, da die Stimme des Nichts sie leite, und erhielt ein Schweigen als Antwort.
    Auf dem Operationstisch hatte ich eine leise Panik, weil die mit der Abtreibung beauftragte Ärztin jünger als ich war und Inderin, womöglich hatte sie ihre eigenen Methoden, die weißen Gebärmüttern nicht bekamen…
    Indien ist überbevölkert von Lebenden wie von Toten, anscheinend stehen alle Inder schon mit einem Fuß im Grab, es wird dort zuviel geboren und zuviel gestorben, aber das ist ganz natürlich, alle sind im großen Rad der Wiedergeburt gefangen. Als die Ärztin die kleine, weiße Maske über Nase und Mund zog, mußte ich an die vielen tausend Leichen denken, die in den Wassern des Ganges trieben und sich dort manchmal stauten. Als sie sich näherte, fiel mir die Grobheit der indischen Freier ein, und als sie ihr Spekulum in mich hinein schob, befiel mich ein Krampf, der sich vom Bauch bis in die Zehenspitzen zog, so daß ich mich mit den Ellbogen abstützen mußte. Zu diesem Zeitpunkt bat ich um eine zweite Dosis Morphium und bekam zur Antwort, man müsse zunächst die Wirkung der ersten abwarten, außerdem habe die Operation noch gar nicht begonnen, ich sagte, ich sei durch meine Gewöhnung an Drogen in hohen Dosen so unempfindlich geworden, daß sie ihre volle Wirkung bei mir gar nicht entfalten könnten, und um zum Ende zu kommen, gaben sie schließlich nach. In dem Moment hätte ich fast gefragt, ob man die Prozedur nicht abbre-chen könne, und ich glaube zu wissen, warum, es war, weil die Ärztin so jung war, mit ihren sechs- oder sieben-undzwanzig hätte sie meine kleine Schwester sein können, und vor der kleinen Schwester muß man erwachsen sein und ein würdiges Beispiel geben. Womöglich war das alles auch ein Zeichen für den außergewöhnlichen Charakter des Kindes, schließlich konnte diese Ärztin auch eine große Zauberin sein.
    Während der Operation wartete ich auf den Schmerz, aber er kam nicht. Ich wartete auf die Geräusche der chirurgischen Instrumente, ein Knattern und Gurgeln, wenn das Kind durch die Röhre rutschte, aber nein, nicht einmal ein leises Brummen war zu hören. Ich wartete auf meine Tränen, aber mir war nicht danach, das Morphium hatte mich getäuscht. Gleich nach der Operation

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