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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly Arcan
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gehört, das es sowohl in dieser wie auch in der anderen Welt gibt, und wußtest daher nicht, daß sich bekehrte Huren gern in Moralapostel verwandeln.
    Zu deiner Verteidigung hast du auch auf Fotos von mir verwiesen, die vor ein paar Jahren im Internet veröffentlicht wurden. Ich hatte dir gestanden, daß ich mit zwanzig für Barely Legal posiert hatte, ich hatte dir das gestanden, als wäre nach allem, was du über mich wußtest, noch Raum für Überraschungen gewesen. In dem Moment hast du übrigens gar nicht reagiert, erst einen Monat später hast du dir in den Kopf gesetzt, die Fotos zu finden, und mich um meine Hilfe gebeten.
    Trotz meiner Informationen und unserer langen, gedul-digen Suche haben wir kein einziges von diesen Bildern gefunden, und wenn ich darüber nachdenke, wundert es mich nicht. Seit frühester Kindheit bin ich mit diesem Mangel an Beweisen für meine Existenz geschlagen, doch heute, glaube ich, leiden andere mehr darunter als ich. Behinderte leiden oft so sehr an ihrem Handicap, daß sie sich Befangenheit gar nicht leisten können, ich zum Beispiel weiß gar nicht, was das ist, deshalb kann ich auch all diese Dinge schreiben. Trotzdem schade, daß keines von den Fotos mehr zu finden war. Sie hätten dir allen Grund gegeben, dich zu lieben beim linkshändigen Wichsen, denn mit zwanzig war ich praktisch noch Jungfrau, ein richtiges Girl Nextdoor, ich hatte noch nicht den Körper eines Pornostars, und bei meinem Anblick spürte man noch den Geruch von Sex statt von Geld.
    Ich erinnere mich noch an den Tag des Shootings, das bei mir zu Hause stattfand; ich erinnere mich daran, wie genau ich die Polaroids durchgesehen habe, die vorweg gemacht wurden, um die passende Beleuchtung für meine Haut zu finden, und an meine Angst, geil zu werden, die mich fast verrückt gemacht hat. In den ersten zehn Minuten habe ich mich gar nicht wieder erkannt, ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nie aus diesem Blickwinkel gesehen, das war übrigens mein letzter Kontakt mit der Pornographie, bis ich dich kennenlernte.
    Schade, daß wir uns nicht damals ineinander verliebten, als ich zwanzig war, wir hätten uns sicher besser verstanden, und wir hätten noch zehn Jahre vor uns gehabt, um uns zu zerstören.
    Da ich beide Seiten der Medaille kannte, hatte ich auch ein Rederecht, und ich ersparte dir keine meiner Überle-gungen zu dieser Industrie. Meiner Ansicht nach waren Huren ebenso wie die Mädchen im Web dazu verdammt, sich selbst umzubringen, weil sie in jungen Jahren viel zu schnell ihre Lebensenergie verausgabten und sich lieber den Gnadenstoß versetzten, wenn es auf den letzten Kilometern zu rumpeln begann, als fortan durchs Leben zu kriechen. Durch ihren Selbstmord leuchten sie noch einmal hell auf wie die erloschenen Sterne, deren Licht uns zeitverzögert erreicht, wobei die Lichtexplosion am Ende bei weitem das strahlendste ist, wie die Astronomen sagen, vielleicht weil sie im Moment ihres Todes das beste von sich geben wie die Gehenkten. Vielleicht hätte dein Vater dieser Analogie zwischen der Existenz der Sterne und jener der Frauen, die von der Lust der Männer leben und sterben, in ihrem weithin sichtbaren Verlö-
    schen zugestimmt. Mit seinem Sortiment an Linsen, Rot-, Blau- und Gelbfiltern und einem speziellen Fotoapparat, den er auf das Ende seines Teleskops montieren konnte, schoß dein Vater hunderte Bilder von den farbenprächtigen Feuergarben aus dem Bauch aufgerissener Novae und Supernovae. Dein Vater hatte eine Leidenschaft für die Astrofotografie, die Wände seines kleinen Observato-riums waren mit großformatigen Darstellungen kosmischer Phänomene tapeziert; eine zeigte das Ergebnis des Zusammenstoßes zweier Galaxien, aus dem diese bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen hervorgingen, von schwarzen Wolkenbändern durchzogen, die an Blutspuren erinnerten. Am liebsten suchte dein Vater den Himmel nach Roten Riesen ab, die aufgrund der Instabilität ihrer Atome immer weiter anschwollen bis zu dem Punkt, an dem sie ihre Seele aushauchten; dein Vater liebte die Farben der Agonie, er kannte den Glanz der letzten Seufzer besser als wir.
    Hätte Gott allen Lebenden einen so spektakulären Tod gegönnt, dann hätte die Welt einen Sinn. Das Leben würde doch gewinnen, wenn man es unter Verschleude-rung seiner gesamten Substanz in einem grandiosen Flash verlängern könnte, doch anscheinend hat Gott es so gewollt, daß wir mit unserem Tod der Stille des Meeres-grundes anheim fallen oder dem

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