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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly Arcan
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abends, wenn ich im Alkohol versank, Episoden aus Fernsehserien, von denen ich kaum etwas behalten habe. In diesen drei Monaten habe ich über zweihundert Dollar nur für Verspätungszuschlä-
    ge ausgegeben, und die Angestellten lachten sich heimlich über mich schlapp. Immer wenn ich mit den Kasset-ten vom Vorabend ankam, lächelten sie einander aus den Augenwinkeln zu oder sahen, wenn gerade kein Verbündeter unter den Kollegen in der Nähe war, grinsend zu Boden. Jeder hatte eine besondere Art, sich hinter meinem Rücken über mich lustig zu machen, die Angestellten der Boîte Noire hatten Geschmack, sie hielten nichts vom Mainstream.
    Auch du hast gern ferngesehen und Videos ausgeliehen. Du konntest nur zwei Dinge nicht leiden, Sciencefic-tion und Liebesszenen, fällt mir jetzt ein. Das hast du mir eines Abends gesagt, als ich dich fragte, warum du alle Küsse in den Filmen, die wir gemeinsam guckten, im Schnellvorlauf überspult hast. Ich weiß nicht, ob es in deinem Kopf eine Verbindung zwischen beidem gab.

    Unter anderem habe ich mir letztes Frühjahr sämtliche hundertfünfzig Folgen von Akte X ausgeliehen und dabei sogar zwei, drei glückliche Momente erlebt. An einiges kann ich mich noch erinnern, zum Beispiel an die Folge, wo die Leute sich tot auf Polaroids sahen, obwohl sie in die Kamera gelächelt hatten, wie man es eben so macht.
    Sie sahen sich auf den Fotos als Opfer eines Verbrechens, und wußten in dem Moment, daß sie genau auf diese Weise ermordet werden würden, erwürgt, erstochen, enthauptet, mit wirren Haaren und absurd verrenkten Gliedern. Zum ersten Mal in der Geschichte konnten Menschen ihren eigenen Leichnam identifizieren. Die zwei FBI-Agenten kamen in ihren Nachforschungen dahinter, daß die Kamera Zeitreisen unternahm, um die sterblichen Überreste ihrer Motive ein paar Sekunden nach deren Tod festzuhalten, anscheinend konnte sie nicht nur in die Zukunft sehen, sondern auch über das Leben der Menschen hinaus. Ich wüßte gern, ob das auch bei mir funktionieren würde, oder ob die Kamera mir gegenüber die gleiche Reaktion gezeigt hätte wie das Tarot meiner Tante, ich wüßte gern, ob für mich ein Tod vorgesehen ist.
    Die Agenten Scully und Mulder sind ein seltsames Paar, weil sie nie ficken. Der Kampf gegen die Kräfte des Bösen, die aus jeder Ecke des Universums hervorbrechen können, läßt ihnen dazu keine Zeit. Sie machen die größten Entdeckungen aller Zeiten, doch unglücklicherweise fallen diese stets einem Bürokollegen in die Hand, der auf der anderen Seite steht, im Lager der Lügner und Betrüger, die Panik in der Welt verbreiten und jegliche Ordnung stürzen wollen, weil sie an die Offenbarung eines höheren Lebens aus dem Weltall glauben. Vielleicht ist Scullys und Mulders Sexualität ja angesichts der Ungeheuerlichkeit einer Lichtjahre dauernden Reise zur Erde einfach erloschen. Vielleicht ist der Verlust der Sexualität ja etwas Ähnliches wie wenn man über Nacht weiße Haare bekommt, der Preis, den man bezahlt, wenn man die großen Erschütterungen des Lebens übersteht.

    Ich dachte, womöglich führt die Nähe einer fremden und überlegenen Rasse zu dieser Gleichgültigkeit gegen-
    über dem anderen Geschlecht. Scully und Mulder ficken nicht, weil ihnen die Erde angesichts des außerirdischen Lebens auf einmal zu klein erscheint, flach und unterentwickelt im Verhältnis zur grandiosen Evolution der Eroberer. Vielleicht hegen sie den heimlichen Wunsch, sich mit Geschöpfen von anderen Sternen zu paaren, um sich in verbesserter Form zu reproduzieren. Der Fort-pflanzungsinstinkt zielt zweifellos auf etwas Absolutes, auf eine Weiterentwicklung zur Vollkommenheit, vielleicht entdeckt die Medizin ja eines Tages, daß der Drang ins Universum dem Menschen seit Urzeiten eingepflanzt ist, daß schon unseren Ahnen in ihren Höhlen die Bestimmung innewohnte, das menschliche Elend im ganzen Weltall zu verbreiten, wie es die größte Befürchtung meines Großvaters war, wer weiß.
    Seit du mich verlassen hast, bin ich nur selten aus dem Haus gegangen, zur Abtreibung, ins Delikatessengeschäft um die Ecke, ins Kino Lamour oder eben in die Boîte Noire. Wenn ich nicht vor der Glotze hockte, habe ich vorm Computer für dich gewichst. Wochenlang habe ich so gewichst, nicht nur aus Langeweile, sondern um mich mit dir zu versöhnen und gleichzeitig Frieden zu schlie-
    ßen mit meinen früheren Freiern, ich wollte noch einmal meinen Platz unter den Menschen finden, bevor ich ihn

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