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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly Arcan
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einmal das letzte Stündlein aller bedrohten Wolkenkratzer der westlichen Welt noch der Schuß ins Knie, den sich die Amerikaner zufügten, als sie ihre Waffen auf den Irak gerichtet haben, nichts hätte etwas gegen die Spiegel ausrichten können, die unsere Begegnung jenseits der Wand ver-doppelten, nichts konnte jemals etwas gegen meinen Zwang ausrichten, mich im Auge zu behalten, warum auch immer, wahrscheinlich weil ich dieser Schönheit, die sich bei der erstbesten Gelegenheit in die Poren zurückziehen konnte wie eine Schnecke in ihr Haus, noch nie so recht traute. Aus Erfahrung weiß ich, daß sich der Blickwinkel der anderen automatisch verändert, wenn man sich selbst nicht mehr schön findet. Während ich mir einzureden versuchte, daß du von weiblicher Psychologie nichts verstehst, blickte ich zur Spiegelwand, um mein Bild aus der Menge herauszuschälen, ich wollte den Mangel am Werk sehen.
    Wenn der Mangel am Werk ist, sieht man sich nicht mehr im Ganzen, sondern nur im Detail. Der Mangel ist überall, wo man hinschaut, und da du auf einmal verstummt bist und dein Lächeln versiegte, dachte ich, die Ausbreitung des Mangels habe ihn auch für dich sichtbar gemacht. Ich dachte, du hättest plötzlich einen bestimmten Zug an mir entdeckt, der dir vorher entgangen sei.
    Daß dir an mir nichts auffiel, hast du mir später gesagt, du dachtest bloß, du langweiltest mich mit deinen lang-atmigen Reden, als du sahst, wie ich mein Spiegelbild sezierte, dachtest du, das sei meine Art, mir die Zeit zu vertreiben; wer einen andern verführen will, hält sich immer für die Ursache von allem.
    An diesem Abend arbeitete der Mangel hauptsächlich an den Furchen unter meinen Augen, die keine Ringe mehr waren, sondern das Leid des Lebens. Sie hatten die Farbe gewechselt, und dieses unverzeihliche Violett beherrschte mein ganzes Gesicht. Seit ich ganz klein war, habe ich dieses Violett erwartet, es war bereits angelegt in der Erwartung meines dreißigsten Geburtstags. In diesem Violett, das durch meine verdüsterte Miene noch dunkler wurde, waren meine blauen Augen grau geworden und hatten sich in ihre Höhlen verkrochen, der Rest des Gesichts verblaßte wie der Rücken eines Chamäle-ons, man sah es schon gar nicht mehr. Nur meine Augen-ringe hingen noch in der Menge, und an diesem Abend fielen alle schlaflosen Nächte der Welt auf sie zurück.
    Jeder weiß, daß Gesichter nur schön sind, wenn nicht ein Zug hervorsticht, das steht in jeder Modezeitschrift, daß Schönheit vor allem eine Sache der ausgewogenen Komposition ist.
    Als du dich umsahst vor der Spiegelwand, vielleicht um zu schauen, ob Annie noch da war, dachte ich, das sei dein erster Fluchtreflex. Über Annie hast du nicht viel gesagt an diesem Abend, nur daß sie in dir den Mann ihres Lebens sehe, wofür du nichts könntest, außer daß du es schmeichelhaft fändest. Zwischen dir und den Frauen gab es keine Symmetrie, und du warst nicht der einzige dieser Art, auch ich gehörte dazu und Annie… Menschen sind so, sie schauen woandershin, wenn man sie an-schaut, mein Großvater hat das Problem auf seine Weise gelöst, indem er Gott schaute. Anscheinend kann Gott alles sehen und alles hören, und diese Allgegenwart zwingt ihn dazu, die ganze Menschheit zu umarmen, aber von ihm aus betrachtet, ist es keine Liebe, er kann bloß nicht anders; wirkliche Liebe wäre es nur, wenn er sich der Verantwortung, die seine absolute Sicht ihm auferlegt, auch entziehen könnte, vielleicht wäre er doch lieber ein Mensch, weil er sich dann das Recht zusprechen könnte, seinesgleichen zu verlassen.
    Einmal hast du auf die Uhr gesehen, als wir vor der Spiegelwand standen, und ich dachte schon, ich hätte dich für immer verloren. Dann bist du gegangen, und als du mit einem neuen Bierglas in der Hand zu mir zurück-kamst, freute ich mich über dein Lächeln.

    *

    Das Tarot meiner Tante war beeindruckend, groß wie ein Terminkalender. Es half aber nichts, sie konnte nicht darin lesen, wenn ich dabei war, und das war ihr ziemlich peinlich. Einmal bat sie mich, aus dem Zimmer zu gehen, weil sie dann vielleicht mehr sehen könnte, doch als ich zurückkam, zuckte sie die Achseln, es funktionierte in meiner Abwesenheit nicht besser als in meiner Anwesenheit. Das wurde allmählich zu einer Anklage gegen sie, die riesigen Karten machten sich über sie lustig, durch mich wurde sie kurzsichtig; einmal nahm sie ihre Brille ab und steckte die Nase tief in die Karten, ein anderes Mal hielt

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