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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly Arcan
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glaubte meine Tante, sie habe damit, daß sie ihrer eigenen Tochter die Karten legte, ein Gesetz übertreten; der Wahnsinn war die Weissagung und die Strafe für die Weissagung.
    Alle Karten waren mit einer römischen Zahl markiert.
    Schon komisch, wenn man bedenkt, daß auch im 21.
    Jahrhundert das Wissen um die Zukunft noch immer mit der fernen Vergangenheit in Verbindung gebracht wird.
    Ich frage mich, wie wohl ein modernes Tarot aussehen könnte; ob darauf Gene und Mikroskope abgebildet wären, Viren und Rezepte für Antibiotika, Dateinamen und E-Mail-Adressen, Nadines und Annies, Handys und Flugzeuge? Es ist anzunehmen, daß der Tod nicht vorkäme oder höchstens auf positive Weise, als Wiederauferstehung durch Klonen oder Einfrieren, es wäre auch denkbar, daß alle Karten wenigstens im Ansatz irgend etwas Gutes, Positives hätten, das man mit nach Hause nehmen könnte, daß sie allen Prüfungen des Lebens etwas abgewinnen könnten und der Welt mit einem Lächeln gegenüberträten.

    Meine Tante hat mir einmal gestanden, sie habe sich heimlich gewünscht, im Mittelalter zu leben, dann wäre sie auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden und hätte so ihre Gabe auf ewig geheiligt; die Größe der Strafe stand damals in direkter Beziehung zu der zu besiegen-den Macht. Sie glaubte an Hexen und Märtyrer, deshalb mochte sie mich wahrscheinlich.

    Z um Schreiben gingen wir täglich in unsere Lieblings-cafes, du ins Eldorado oder das Café So auf dem Plateau oder ins Olympico im Mile End, ich in Les Gâteries, La Brûlerie oder Le Pèlerin im Quartier Latin.
    Am Anfang unserer Liebe fiel uns jede Trennung schwer, wir vermißten einander sofort, sogar bei der Arbeit brauchten wir die Überwachung des anderen.
    Anfangs wollten wir Seite an Seite schreiben, wie Verliebte, in denselben Cafés, aber nach ein paar Wochen waren wir uns einig, daß wir nur dort richtig schreiben konnten, wo wir allein unter Menschen waren. Man muß dabei laut denken können, ohne daß der andere es hört, man muß den Kopf in die Hände stützen und die Wörter verfluchen können, die nicht zu packen sind, man muß mit den Fingern auf den Tisch trommeln können, ohne sich um die Nerven der Tischgenossen zu scheren, man muß sich gehen lassen können und auf Manieren verzichten, das verträgt sich nicht mit der Liebe, wir hätten uns voreinander etwas vergeben.
    Zu Hause zu schreiben kam überhaupt nicht in Frage, weil man verrückt wird, wenn man den ganzen Tag dort schreibt und dann auch noch den Abend dort verbringt; wir konnten die Wohnung nicht als Teil der Außenwelt betrachten, sie war eine Hülle, ein Spiegelbild von uns selbst.
    In der ersten Zeit, solange wir nicht voneinander lassen konnten, saßen wir uns im Café gegenüber, maßen einander über den Bildschirm hinweg und warteten auf eine Eingebung, unsere Gedanken waren auf Konfrontation eingestellt, wir verdächtigten einander des Plagiats.
    Endgültig gescheitert ist das Ganze dann, als du mir einmal in der glühenden Mittagshitze beim Essen auf der Terrasse des Cafés Les Folies Auszüge aus dem Text gezeigt hast, an dem du gerade schriebst. Er klang wie von einem Freier. Da gab es haufenweise Brünette; von deiner Fixierung auf Stiefelfrauen war die Rede, du hattest angeblich Stiefel im Blut wie Schwarze den Rhythmus, niemand könne etwas dafür, nicht einmal die Frauen, die nicht unbedingt dich mit ihren Stiefeln meinten, die Stiefel verlängerten nur deine Erektionen für und gegen jeden. Um dir eine Freude zu machen, habe ich mir einmal lange, schwarze Lederstiefel gekauft, doch du wolltest nicht, daß ich sie anzog; ich war deine Blonde.
    Wenn ich dich tippen hörte, kam es mir vor, als fasstest du beim Schreiben die Frauen an, über die du schriebst, als wären deine Scherze Flirts, das Schreiben als Freier fiel dir anscheinend leicht, du machtest aus Frauen Anek-doten. Ich habe von Anfang an unter deinem andersgear-teten Geschlecht gelitten, mein Geschlecht war schwer, es schaute nach unten, es war deinem nicht gleichwertig.
    Wir schrieben im Café, weil man beim Schreiben leicht das Gefühl bekommt, sich lächerlich zu machen, und sich nach einfachen Freuden sehnt, die wir unbedingt meiden mußten: an den Kühlschrank gehen, sonnenbaden auf dem Balkon, die schattigen Ahornbäume im Parc Lafontaine, die Nachmittage auf den Terrassen der Rue Saint-Denis, Pornographie für dich und für mich, die immer schon dem Alkohol zuneigte, Krüge voll Sangria. Vor allem aber

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