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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly Arcan
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sie sie auf Armeslänge von sich, doch sie sah immer nur unverständliche Zeichen auf plastifiziertem Karton. Die Karten trugen Figuren mit den üblichen Namen wie Magier, Hierophant, Herrscherin, Narr, die Liebenden, Eremit, Tod und Teufel. Ich mochte den Gehenkten gern, weil er an den Füßen aufgehängt war, weil die Welt für ihn auf dem Kopf stand und er die anderen an ihren Schuhen erkennen mußte, er repräsen-tierte die Ausweglosigkeit, die Sackgasse, er flößte Mitleid ein. Meiner Tante zufolge verhießen erschrek-kende Bilder wie der Tod nicht notwendig Unheil, das hing von den anderen Karten ab, so tauchte die Sonne manchmal nur deshalb in einem Spiel auf, um das Elend ein wenig aufzuhellen.
    Sie legte vier Karten kreuzförmig vor mir aus und anschließend eine in die Mitte; die mittlere Karte war am wichtigsten, denn sie stellte die Verbindung zwischen den anderen her, sie konnte den Einsatz retten, aber auch das Spiel ruinieren. Bei mir lag in der Mitte oft die Mä-

    ßigkeit, eine Karte mit nur wenigen Farben, auf der man einen Mann sah, der Wasser in seinen Wein goß, im großen und ganzen hieß das, daß ich eine verwischte, aufgelöste, nebulöse Persönlichkeit war. Das mit der Auflösung war meiner Tante zufolge bei mir buchstäblich zu verstehen, keine besondere Eigenschaft, sondern die Grundlage von allem, die Auflösung als meine eigentli-che Substanz. Außerdem hätte ich eine weiße, durch-scheinende Haut, man könne fast durch mich hindurch sehen. Diese Karte erklärte die Dinge ganz gut, fand meine Tante, das Nebulöse dominierte ihre Tarotkarten, es war die mächtigste aller Waffen, es wurde mit allem fertig, es folgte allen wichtigen Ereignissen, weichte deren Ränder auf und verhüllte sie schließlich. Um die Mäßigkeit wurden allerlei Theorien geschmiedet, sie schien mit einem Geburtsfehler in Zusammenhang zu stehen.
    Der Arzt, der meine Mutter während der Schwangerschaft betreute, hatte ihr zunächst einen Jungen angekündigt, er hatte ihr sogar das Schwänzchen auf dem Ultra-schallbild gezeigt, eine Illusion, die meine Mutter mit ihrer wachsenden Liebe nährte; sie sah in mir bereits den großen Mann, den sie monatelang wiegte, mit dem sie sprach, dessen Namen sie sang: Sebastien. Als ich schließlich auf die Welt kam, wechselten der Arzt und meine Mutter fassungslose Blicke. Obwohl er unterwür-fig um Vergebung bat, wollte meine Mutter nicht mehr von ihm behandelt werden, nachdem seine grobe Inkompetenz erwiesen war, schließlich hatte sie seinetwegen eine Menge zärtlicher Gedanken verschwendet, ganz zu schweigen von dem Geld, das für Tapeten und blaue Strampler draufgegangen war, seinetwegen gab es keinen Namen, um mich an meinem ersten Tag im Licht der Welt willkommen zu heißen. Und das riesige Fibrom, das auf der Gebärmutter meiner Mutter gefunden wurde, hätte mich eigentlich schon in den ersten Monaten der Schwangerschaft erdrücken müssen; daß ich überhaupt auf der Welt war, widersprach allen Gesetzmäßigkeiten der Natur, mein Leben war unerklärlich. Vermutlich war mein Name ebenso wenig im großen Schicksalsbuch verzeichnet wie meine Geburt, meinte meine Tante, und wahrscheinlich wußte nicht einmal Gott von meiner Existenz. Damit entginge ich auch dem Jüngsten Gericht, was mir eine grenzenlose Freiheit schenkte, bis hin zu dem Recht, anderen das Leben zu nehmen, ich könnte später Auftragskiller werden und mich der Gerechtigkeit entziehen. Dafür würde meine Seele weder das Tor zum Paradies durchschreiten noch das Tor zur Hölle, sondern ewig durch die Vorhölle irren, allein wie ein Eisbrocken zwischen zwei Galaxien; um mein Leben machte sich meine Tante weniger Sorgen als um das Jenseits, wo mich womöglich ewige Trostlosigkeit erwartete. Ich wüßte gern, ob sie die Karten auch noch über mich befragen wird, wenn ich tot bin, und ob mein Tod die kosmische Energie, die sie auf sich lenken, vielleicht doch noch zum Leben erweckt.
    Die schrecklichste Karte war der Mond, sie stand für versteckte Ängste und tiefste Furcht, und man sah darauf einen Krebs unter einer mondbeschienenen Brücke. Das war für meine Tante das Schlimmste, was einem im Leben passieren konnte: von einem Krebs zerfressen zu werden, der heimlich wie ein Tumor sein Zerstörungs-werk vollbrachte. So hatte sie durch den Krebs in ihren Karten gesehen, daß ihre Tochter Linda verrückt werden würde, und als diese kurz darauf mit fünfzehn Jahren tatsächlich an Schizophrenie erkrankte,

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