Hoffnung Blaue Seiten (German Edition)
schwuler Jungs, die ihren Eltern von ihrer Veranlagung erzählen könnten, die sich aufreizend anzogen, auch in der Öffentlichkeit, die oft leicht feminisiert waren, aber dazu offen standen, die stolz auftraten, Spaß an ihrem Sein, an ihrem Schwulsein, zu haben schienen. Eine andere Welt für mich, die ich tatsächlich nur aus zweiter oder dritter Hand kannte, die aber trotzdem Teil meines Lebens wurde, aber auch das intensivierte sich nun durch die Blauen Seiten, irgendwie. Merkwürdig, ich weiß, nicht nachvollziehbar für Menschen, die nicht mein Leben führen, die nicht diese Einschränkung kennen, nicht diese Ängste, die sich in meinen eigenen vier Wänden leichter im Zaum halten lassen, die nicht mehr ausbrechen müssen, und selbst wenn, dann kann nichts passieren, zumindest keiner anderen Person, und das beruhigt mich schon so sehr, dass ich ein bisschen Grundsicherheit gewonnen habe.
Filigranlover bemerkt natürlich meine Wandlung, mein neues Selbstbewusstsein, meinen Körper, den ich jetzt präsentiere, zumindest auf den Blauen Seiten, er bemerkt meinen forscheren Ton ihm gegenüber. Er spricht mich darauf an, diskutiert es in langen Nachrichten mit mir, fragt mich nach meinen Beweggründen, nach seinem Dazutun, nach den anderen Nutzern, inwiefern die mir eine Hilfe waren, eine Unterstützung. Er fragt mich danach, ob ich auch mehr sexuelles Verlangen verspüre, mehr Wunsch, noch mehr Wunsch, nach Nähe, und ich gebe begierig Auskunft, möchte auf eine sexuelle Schiene mit ihm gelangen, ihm schreiben, was ich alles mit ihm machen möchte, wenn er doch endlich zu Besuch komme, was ich alles mit seinem Schwanz tun werde, wo ich ihn überall liebkosen und küssen werde, wie ich seinen Hintern bearbeiten werde. Doch er blockt ab, erneut, blockt immer wieder, wie so oft, und geht auch nicht auf Terminvorschläge ein, stattdessen fragt er immer mehr, dringt immer tiefer in die Materie ein, fragt genauer nach, so als würde es um Leben und Tod gehen. Einmal rastet er fast aus, als ich erneut versuche, sexuell zu werden, nachdem er mich mit Fragen gelöchert hat, »Jetzt sag es mir doch, jetzt sag es mir doch endlich!!!«, schreibt er mir, und ich denke, was ist denn los, was will er, welches Interesse hat er, das kann er alles erfahren, wenn er mich endlich besucht, oder?
Die nächsten Tage ist er nicht online, auch ich mache eine Pause, nehme mir vor, die Tage ein bisschen härter zu arbeiten. Eine Abgabe liegt vor mir, es waren plötzlich viel zu viele Aufträge auf einmal an mich herangetragen worden, die ich gezwungen war anzunehmen. Als Selbständiger hat man ja kaum Möglichkeiten etwas abzusagen, und wenn es einmal fließt, dann fließt es, dann soll es so sein, daher versuche ich mich möglichst wenig vom Internet, von den Blauen Seiten, ablenken zu lassen, doch es ist schwer, ich habe mich daran gewöhnt, an meinen virtuellen Freundeskreis, an meinen virtuellen Partner, an Filigranlover, dem ich alles von mir erzähle, und der mich früher oder später treffen wird, da bin ich mir noch immer ganz sicher.
Meine Mutter war so etwas, was man vielleicht »Kümmerin« nennen könnte. Mein Vater wurde bereits nach kurzer Zeit der Ehe schwer krank, Multiple Sklerose, die sich sehr schnell entwickelte. Sie kümmerte sich um ihn, es war ihr Lebensinhalt, es schien sie fast glücklich zu machen. Für die jüngeren Frauen empfand sie nur Mitleid, wenn sie daran dachte, dass die sich selbst verwirklichen mussten, um sich ganz zu fühlen, außer Haus sein müssten, ihr eigenes Geld verdienen. Dies alles bedeutete ihr nichts, sie wollte gerne das Heimchen am Herd sein, da kannte sie sich aus. Klar, sie ging gerne einkaufen, auf den Markt, in die Lebensmittelläden, sie liebte Feinkost, sie liebte Luxus, nur dass sie bald kein Geld dafür hatte, wegen der Krankheit ihres Mannes, die sie aufopferungsvoll hinnahm, die sie dazu benutzte, sich über alle anderen Menschen zu erheben, sich als Mutter Theresa zu fühlen, so lange zumindest, bis er endlich verstarb, endlich, sage ich, denn er hatte längst den Lebensmut verloren, die Lebensfreude, er wollte nicht mehr, nur noch sie, die Kümmerin, kümmerte sich um ihn, und ich, der noch zuhause lebte, auch als ich studierte, wollte ihn ebenfalls nicht mehr lebend sehen, es deprimierte mich.
Durch seinen Tod hatte sie nun ihren Lebensinhalt verloren. Meine Launen, meine kleinen Depressionen waren ihr nicht genug. Das stresste sie nicht so sehr. Sie begann
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