Hoffnung ist Gift: Roman (German Edition)
doch wenigstens erwähnt werden, oder? Vielleicht wird Everett Wells darauf zu sprechen kommen.
Es folgt eine Werbepause, und Melissa beugt sich zu Jerome, um ihm zu versichern, er habe seine Sache wirklich gut gemacht. Er nickt und lächelt. Sie wendet sich Everett Wells zu, der in einer kleinen, mitgebrachten Taschenbibel liest, und informiert ihn, die Reihe sei nun an ihm. Ich will ihn fragen, ob das ein Scherz sei mit der Bibel, oder seine Art, ironisch rüberzukommen, habe aber Angst vor der Antwort. Für die zwanzig Jahre im Gefängnis wird der liebe Gott nicht haftbar gemacht, das Verdienst für die Freilassung gebührt ihm aber ganz allein.
Ein bekanntes Scherzwort im Knast lautet, dass die Leute, die mit der Bibel herumrennen, offenbar sämtliche Berufungsmöglichkeiten ausgeschöpft haben. Vielleicht sollte ich das erwähnen, wenn ich dran bin.
Fünf, vier … wir sind wieder auf Sendung. Wir sprechen heute mit drei Männern, die irrtümlich eingesperrt waren. Bla bla bla. Ich sehe, wie die Kamera auf Everett Wells hinschwenkt. Melissa schildert seine Verhaftung, während auf einem eingeblendeten alten Pressefoto ein in Handschellen gefesselter, junger Wells gezeigt wird, den man gerade in einen Polizeiwagen hineinschubst. Soviel ich von Brocks Erzählungen weiß, war im Fall von Everett Wells wesentlich mehr Bösartigkeit im Spiel. Da hat man Zeugen, die von seiner Unschuld überzeugt waren, eingeschüchtert und zum Schweigen gebracht, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, dass man ein angebliches Beweismittel in sein Auto geschmuggelt hat. Ein derartiges Vorgehen kann doch beim besten Willen nicht entschuldigt werden – nicht in einer knallharten Sendung wie Texas Today! »Erzählen Sie uns doch, was in Ihrem dritten Jahr im Gefängnis passiert ist«, fragt Melissa fröhlich und unter Weglassung der rechtswidrigen Verhaftung und Anklage.
Diese Weglassung macht Wells nichts aus, der seine Zeit im Gefängnis dazu genutzt hat, ein ordinierter Baptistenpfarrer zu werden. Was bringt es schon, zornig zu werden? Zorn frisst dich ja nur von innen her auf. Auch dies sei eine Lehre aus dem Gefängnis, klärt uns Wells in seinem einschmeichelnden Bariton auf. Wer vor Zorn brennt, fügt sich nur selber Wunden zu. Mir dreht sich der Magen um, als ich das höre, und sofort schießen mir wieder die Schmerzen in den Unterleib ein. Ich lasse einen langen, langsamen Furz ins Sofa hinein. Aber was für einen! Ich bin froh, dass es ein stiller war und die Mikrofone ihn nicht erfasst haben. Ich bin auch froh, dass Wells keine fächelnden Handbewegungen macht und seinen Kopf nicht wegdreht, sondern einfach fortfährt, seine Autoaufkleber-Plattitüden über den Sieg des menschlichen Geistes zu verbreiten.
Ich stelle mir meine Antwort darauf vor, wenn ich dran bin. Wollen Sie ein wenig Gequassel über den menschlichen Geist hören? Ich kann Ihnen gern einen großen, dampfenden Haufen menschlichen Geist servieren. Möchten Sie hören, wie ich Stunde um Stunde damit verbracht habe, in eine Toilettenschüssel aus Edelstahl zu starren, und mich gefragt habe, wie mein Kollege das bloß gemacht hat, sich da ein Stück Metall rauszureißen und sich mit einem Splitter davon die Kehle aufzuschlitzen? Wäre das eine hinreichend erhebende Geschichte für Sie? Oder ich erzähle ihnen von einem der zahllosen Nachmittage, die ich plaudernd mit einem Mann verbracht habe, der nicht das Geringste dabei finden würde, mich mit einem Zahnbürstengriff totzustechen, sollte ich ihn irrtümlich mit einem bestimmten Spitznamen anreden? Die Wahrheit ist, dass du in dem Augenblick, wo dir bewusst wird, dass andere Menschen dich in einen Käfig stecken können, zur Erkenntnis kommst, dass deine Freiheiten und alles, was du im Leben bis dahin als so selbstverständlich erachtet hast, den Launen von anderen, mächtigeren Menschen unterworfen sind. Dein Frühstückskaffee, deine Spaziergänge durch den Park, dein Internetzugang … all das hast du nur, weil niemand anderer beschlossen hat, es dir zu verbieten. Und wenn du mal gelernt hast, wie gefährdet dein Platz in der Gesellschaft ist, kannst du diese Erkenntnis nicht einfach wieder vergessen, wenn du rauskommst. Das Wissen darum bleibt bei dir. Du hast hinter den Vorhang geblickt und bleibst auf immer gezeichnet.
Mir fällt auf, dass Jim, der Typ mit den Kopfhörern, mich sorgenvoll anblickt. Entweder spreche ich mit mir selber oder ich strahle Hassgefühle aus. Rasch nicke ich und lächle,
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