Hoffnung ist Gift: Roman (German Edition)
Gesicht geschmiert zu haben. Das fällt mir auf, als ich sie abseits der Studiolampen zu sehen bekomme – umso erstaunlicher, dass sie anschließend im TV-Licht wieder völlig normal aussieht. Jetzt kann ich mich selbst in den seitlich am Rand des Studios aufgestellten Monitoren sehen und stelle fest, dass ich aussehe wie ein käsiger, ausgemergelter Überlebender eines Vernichtungslagers, der sich zudem dringend rasieren sollte. Im Gegensatz zu mir wirken meine Kollegen putzmunter und gesund, entweder weil ihr Glaube ihnen eine angenehmere Aura vermittelt hat oder weil dunkle Haut im Scheinwerferlicht einfach besser rüberkommt.
»Hallo, miteinander, ich bin Jim«, sagt ein junger Mann mit Brillen, Kopfhörern und Klemmbrett. Wir nicken alle und winken. »Ich bin der Aufnahmeleiter. Braucht ihr irgendwas? Wasser, Kaffee?« Wir schütteln alle den Kopf. Jim hebt den Zeigefinger in die Höhe, als sei ihm gerade eine brillante Idee gekommen. »Mister Sutton, warum setzen Sie sich nicht in die Mitte?«
Ich tausche den Platz mit Jerome Loggins und sehe auf dem Monitor, dass dies den Eindruck unserer zufälligen Zusammensetzung verstärkt. Wenn zwei schwarze Männer neben einem Weißen sitzen, entsteht sofort der Eindruck, die zwei Schwarzen würden einander kennen. So wie wir jetzt dasitzen, sind wir einfach drei irrtümlich verurteilte Kerle, die sie draußen auf der Straße aufgelesen haben. Ich bin beeindruckt. Diese TV-Leute wissen genau, wie sie den richtigen visuellen Eindruck erzeugen.
Jim nimmt seine Kopfhörer ab und blickt auf sein Klemmbrett. »Sie sind Mister Loggins, richtig?« Loggins nickt. »Okay, also Melissa wird mit Ihnen beginnen, Ihnen einige Fragen über Ihre Verurteilung stellen, und dann geht’s hauptsächlich darum, wie Sie das alles durchgestanden haben und was Sie jetzt so machen, also was für eine Lebensphilosophie Sie jetzt haben.«
Loggins nickt. Jim wendet sich an Everett Wells. »Okay, Sie sind dann als Nächster dran. Grundsätzlich dieselben Fragen … Wie alles passiert ist, natürlich, aber hauptsächlich wollen wir uns darauf konzentrieren, was Sie jetzt machen. Sie wissen schon, wie Sie wieder auf eigenen Beinen zu stehen gekommen sind und diese Dinge.«
»Klar«, sagt Wells in einer vollen Baritonstimme. »Arbeit im Jugendzentrum, dafür sorgen, dass die Kids nicht auf Abwege geraten.« Jim und Wells nicken einander zu, dann wendet Jim sich an mich.
»Mister Sutton, Sie kommen als Letzter dran, weil Ihr Fall der jüngste ist.« Ich nicke. »Wir werden Sie fragen, was Sie jetzt machen und wie Sie Ihre Zukunft sehen.« Er lächelt strahlend, als er das sagt, und Loggins und Wells lächeln und nicken ebenfalls, sodass ich mich wie ein Spielverderber fühle, weil ich nicht mitmache. Jim bemerkt meine saure Miene und beugt sich zu uns runter: »Vergesst nicht, keine Kraftausdrücke, klar?« Er sieht uns alle an, seine Warnung betrifft aber in erster Linie mich.
Meine Zukunftsaussichten. Wie soll ich da Westboro reinbringen? Ich hab’s: Ich werde die Stadtverwaltung Westboro mit Klagen überschütten, weil ihre Polizei ein inkompetenter Scheißhaufen von Lügnern und Fieslingen ist. Aber »Scheiß« darf ich ja nicht sagen. Die schalten mir mein Mikro ab – vielleicht ist »Kacke« erlaubt?
Die Lichter gehen aus, Melissa Kerns kommt rüber und setzt sich in ihren Sessel. Während sich die Techniker mit einigen Zurufen verständigen, geht sie noch ein paar Unterlagen durch.
Wells lehnt sich zu mir rüber und fragt in seinem Schnulzensänger-Bariton: »Ist das Ihr erstes Mal?«
»Im Fernsehen? Ja.«
»Gar nicht nervös?«, fragt er mit einem verschmitzten Lächeln. »Es ist ganz leicht, Mann. Genieß es einfach. Das ist, glaube ich, mein fünftes Mal im TV, im Radio war ich auch schon ein paarmal. Jerome auch.« Er zeigt auf Jerome, der uns zunickt. Deshalb will Jim also, dass ich als Letzter spreche, und deshalb hat er mich auch wegen Kraftausdrücken gewarnt. Ich bin hier die unbekannte Größe. Jim ist nervös, weil ich die Gelegenheit habe, meiner Meinung ungefiltert Ausdruck zu verleihen. Ich könnte ja etwas sagen, was dem Image abträglich ist, das sie hier abgeben wollen: Da sind ein paar Typen, die wurden wegen nichts in den Knast geworfen, aber jetzt ist ja alles okay, sie sind glücklich, haben zu Gott gefunden, sind ihren Weg gegangen und haben große Pläne für die Zukunft. Tolle Jungs, nicht wahr? Die Gesellschaft hat einen Fehler gemacht, keine Frage, aber
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