Hogan, S: Steampunk-Saga: Episode 2
vergraben ließ. Beides gab es in Indien, jedenfalls hatte sie in der Zeitung Artikel darüber gelesen.
Kate war zutiefst fasziniert von Raja Singh.
„Ja, ich bin erst dreiundzwanzig Jahre alt. Aber was ist mit Wesen, die jung zu sein scheinen und in Wirklichkeit steinalt sind – weil sie gar nicht sterben können?“
Singh nickte bedächtig. „Solche Wesen sind sehr gefährlich, Miss Fenton. Ihr ernster Gesichtsausdruck beweist mir, dass Sie sich darüber viele Gedanken machen. Wir reden über Vampire, nicht wahr?“
Vampire. In den vergangenen Wochen und Monaten hatten die Londoner Zeitungen sehr viel Unsinn und Halbwahrheiten über diese geheimnisvollen Kreaturen verbreitet. Kate konnte sich nicht vorstellen, dass auch nur einer von diesen Zeilenschindern und Zeitungsschreiberlingen wirklich Ahnung davon hatte, worüber er sich da ausließ. Sie hatte die ganze Effekthascherei in ihrem tiefsten Inneren die ganze Zeit über nicht wirklich ernst genommen. Bis zu der Nacht, als sie wirklich ein Opfer der Blutsauger erblickt hatte.
Singh machte jedenfalls nicht den Eindruck, als ob er auf eine billige Sensation aus wäre. Kate glaubte fest daran, dass er wirklich wusste, worüber er sprach. Daher nickte sie heftig. „Ja, Sir. Glauben Sie, dass es Vampire gibt?“
„Nein, ich glaube es nicht. Ich weiß es, Miss Fenton.“
Diese Aussage überraschte Kate. Ob man auch in Indien über die geheimnisvolle Mordserie in London diskutierte? Dank der interkontinentalen Morse-Telegraphie erreichte ja jede Nachricht aus der Hauptstadt innerhalb weniger Minuten auch die Kolonien überall auf der Welt.
Für einen Moment fragte Kate sich ernsthaft, ob vielleicht Singh selbst ein Blutsauger war. Sie konnte es sich eigentlich nicht vorstellen, denn sie fand ihn überhaupt nicht bedrohlich und sogar sehr sympathisch. Aber sie musste sich vergewissern. Kate kam etwas näher und berührte wie zufällig seine linke Hand. Beruhigt bemerkte sie, dass der Körper des Inders genauso warm war wie ihr eigener. Sie hatte einmal gelesen, dass Vampire kalte Wesen seien und sich so kühl und hart anfühlten wie eine Leiche. Kate hoffte, dass dieses Gerücht stimmte.
„Habe ich Sie erschreckt? Sie sagen ja gar nichts mehr.“
Singhs Stimme riss Kate aus ihren Überlegungen. Es gab wirklich keinen Grund, in Panik zu verfallen. In diesen Tagen redete schließlich fast jeder über Vampire, warum sollte der alte Inder da eine Ausnahme bilden? Sie hatte ja selbst das Gespräch darauf gebracht. Singh war ein weiser Mann, das spürte sie ganz deutlich. Er schien fest überzeugt davon zu sein, dass diese Blutsauger existierten.
„Nein, ich fürchte mich nicht, Mr Singh. Ich bin nur ein bisschen durcheinander. Ich habe vor Kurzem sehr seltsame Dinge erlebt, die ich nicht verstehen kann. Es hat eine blutlose Leiche gegeben – und ich habe sie gefunden.“
Singh nickte langsam. Kate und er sprachen leise miteinander, während sie zwischen den uralten Überbleibseln einer längst versunkenen Kultur wandelten.
„Das war gewiss ein Schock für Sie, Miss Fenton. – Sehen Sie diese Statue dort vor uns? Sie stellt den ägyptischen Gott Seth dar. Wie Sie sehen, hat dieses Wesen einen Tierkopf mit einer langgezogenen Schnauze. Man weiß nicht genau, was für ein Tier damit gemeint war. Vielleicht eine Antilope oder ein Okapi. Auf jeden Fall ist Seth ein zwiespältiger Gott, wobei seine bösen Eigenschaften überwiegen. Kennen Sie die biblische Geschichte von Kain?“
Wie die meisten Engländer ging Kate jeden Sonntag in die Kirche, daher war sie einigermaßen bibelfest. „Ja, natürlich. Kain hat seinen Bruder getötet und wurde dafür von Gott bestraft.“
„Richtig, Miss Fenton. Es gibt allerdings auch noch eine Legende, die nicht in der Bibel steht. Diese besagt, dass Kain der erste Vampir war, sozusagen der Urvater aller Blutsauger. Und der ägyptische Gott Seth ist angeblich sein direkter Nachfahre. Seth soll Kain erlaubt haben, ihn selbst ebenfalls zum Vampir zu machen.“
Kate lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie direkt vor der Skulptur stehen blieb und sie sich genau anschaute. Das Standbild musste mehrere Tausend Jahre alt sein. Man konnte sich natürlich einreden, dass Legenden nur Legenden waren.
Aber es fiel Kate schwer, in dieser düsteren und bedrückenden Atmosphäre der ägyptischen Abteilung so verstandesorientiert zu bleiben. Der Anblick dieser Skulptur berührte sie ganz tief in ihrer Seele. Und sie
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