Hogan, S: Steampunk-Saga: Episode 2
Märchen, die von ihrer Mutter und ihrer Amme abends am Kamin zum Besten gegeben wurden, waren eigentlich nichts für schwache Nerven.
Doch es war etwas völlig anderes, plötzlich den Lebenssaft in der scheinbaren Sicherheit ihres eigenen Gemachs fließen zu sehen. Vespasia öffnete den Mund, um einen Hilferuf auszustoßen. Mit ihrer schrillen Stimme hätte sie eigentlich dazu fähig sein müssen, die wüsten Schlachtgesänge aus dem Speisesaal zu übertönen.
Aber irgendeine unsichtbare Macht schnürte ihr den Kehlkopf zu. Und dann wurde der Vorhang zur Seite gerissen. Dahinter tauchte eine hochgewachsene Gestalt in einem schwarzen Umhang auf. Groß, mit bleichem Antlitz, und wunderschön.
Merrick Grim.
Gewiss, damals hatte Vespasia seinen Namen noch nicht gekannt. Aber sie ahnte, dass diese geheimnisvolle Kreatur ihrem Leben eine völlig neue Wendung geben würde. Sie saß auf ihrem gepolsterten Hocker, als ob sie gelähmt wäre. Und trotz ihrer inneren Beklemmung drehte sie noch nicht einmal ihren Kopf zur Seite, als Merrick Grim wenig später seinen schmallippigen Mund mit den Fangzähnen darin ihrem Hals näherte …
„Vespasia, meine Schöne. Träumst du vor dich hin, während ich mit dir rede?“
Merrick Grims hypnotische Stimme holte die Vampirin zurück in die Wirklichkeit der Gegenwart, des Jahres 1851. Sie lächelte nervös. „Verzeiht, Gebieter. Ich musste nur gerade daran denken, wie Sie mich damals in unsere Welt einweihten.“
Der Vampirfürst nickte beifällig. „Ein denkwürdiger Tag für dich, gewiss. Nun aber zurück zu unserem Problem. Ich sagte gerade, dass ich beim Schach ein Bauernopfer gebracht habe, um mein Ziel zu erreichen. Ahnst du, was ich damit sagen will?“
„Das verstehe ich, mein Gebieter. Dann haben Sie also unsere Gefolgsleute im Xerxes Club mit voller Absicht in ihr Verderben laufen lassen?“
Merrick Grim lachte höhnisch auf. „Ja, um dieses Friedhofsgemüse ist es nicht schade. Es ist genau das eingetreten, was ich vermutet habe. Du musst dir das so vorstellen, Vespasia: Unsere Feinde agieren so vorhersehbar wie Schauspieler in einem Westend-Theater. Und ich bin der Regisseur.“
„Das begreife ich nicht“, musste die Vampirin zugeben.
Ihr Gebieter lächelte gönnerhaft. „Das ist auch nicht notwendig, meine Teure. Es reicht völlig aus, wenn du mir so kompromisslos folgst, wie du es bisher stets getan hast.“
„Ich würde für Sie durchs Feuer gehen, Meister.“
Vespasias Stimme zitterte, als sie diesen Satz aussprach. Merrick Grim wusste, dass sie es todernst meinte, obwohl sie wie die meisten Vampire panische Angst vor offenem Feuer hatte. Der Sippenanführer nickte seiner Gefolgsfrau huldvoll zu.
„Deine Treue wird belohnt werden, Vespasia. Ich werde dir schon bald Gelegenheit geben, mit James Barwick höchstpersönlich abzurechnen.“
„James Barwick!“ Vespasia spie den Namen aus wie einen lästerlichen Fluch. „Manchmal träume ich in meinem Sarg von diesem Dreckskerl. Und dann wache ich auf und erinnere mich daran, wie er seinen Silberdolch in das Herz meines Geliebten Claudius Myams stieß!“
„So etwas vergisst man nicht“, pflichtete der Vampirfürst Vespasia bei. „Aber seine Tage sind gezählt. Schon bald werden wir sein Blut trinken, ebenso wie den Lebenssaft des alten Turbanträgers und dieses rothaarigen Qualmluders.“
Fortsetzung folgt am 29.4.2013 …
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