Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1
der anderen Seite ebenso steil wieder anzusteigen. Obwohl der Boden sehr felsig war, war die Spur unübersehbar: Sie zog sich schnurgerade durch die Senke und die gegenüberliegende Böschung hinauf. Andrej schätzte, daß es drei oder vier Reiter gewesen sein mußten, die ungefähr in der Mitte des Tales im rechten Winkel vom Haupttrupp abgewichen waren. Ihre Spur verlor sich nach wenigen Schritten zwischen Felsen und Geröll.
»Worauf wartest du?« Frederic hatte bisher hinter Andrej im Sattel gesessen. Nun glitt er mit einer fließenden Bewegung aus dem Sattel des Pferdes und lief unruhig ein kleines Stück voraus. Das Pferd schnaubte nervös, und nach kurzem Zögern stieg auch Andrej aus dem Sattel. Er war beunruhigt, und seine Unruhe übertrug sich entweder auf das Pferd, oder das Tier spürte eine Gefahr, die seinen viel weniger empfindlichen menschlichen Sinnen noch verborgen blieb. Das wiederum beunruhigte ihn noch mehr.
Er antwortete erst mit einiger Verspätung auf Frederics Frage. »Ich bin nicht ganz sicher, welcher Spur wir folgen sollen.«
»Der Hauptspur, natürlich«, sagte Frederic. »Wir haben sie fast eingeholt. Noch ein paar Stunden, und …«
»Du solltest einen Gegner nie unterschätzen«, fiel ihm Andrej ins Wort. Er griff nach den Zügeln und begann das Pferd vorsichtig den Hang hinabzuführen. Unter den Hufen des Tieres lösten sich kleine Felsbrocken und Steine und polterten zu Tal. Es war eine vernünftige Idee gewesen, abzusteigen. Der Boden war abschüssiger, als es von oben den Anschein gehabt hatte. Das Pferd hatte selbst ohne Reiter Mühe, sich auf den Beinen zu halten, und die Spuren, denen sie folgten, bewiesen, daß es den Verfolgten kaum anders ergangen war. Etliche von ihnen mußten gestürzt sein. Andrej fand eingetrocknetes Blut auf den Felsen. Es war noch nicht sehr alt.
Unten im Tal angekommen, hielt er abermals an. Sein Blick irrte unschlüssig zwischen den beiden unterschiedlich breiten Spuren hin und her.
»Worauf wartest du?« fragte Frederic erneut.
Andrej hob die Schultern. »Ich … weiß nicht«, sagte er zögernd, während er gleichzeitig seine empfindlichen Augen abschattete. »Irgend etwas stimmt hier nicht. Ich habe kein gutes Gefühl.«
»Ich auch nicht«, versetzte Frederic scharf. »Wenn wir noch lange hier herumstehen, dann entkommen sie uns am Ende noch.«
Andrej sagte nichts dazu, aber er musterte seinen Begleiter mit einem langen, sehr nachdenklichen Blick. In Frederics Stimme war ein Ton, der ihm nicht gefiel. Der Junge brannte nicht nur darauf, seine Familie wiederzusehen und die Mörder seines Vaters und seines Bruders zu bestrafen. Da war noch mehr. Er konnte nicht genau sagen, was es war, aber er war ziemlich sicher, daß es ihm nicht gefallen würde.
»Du hast recht«, sagte er lahm. »Laß uns weitergehen.«
Der Überfall erfolgte, als sie die Kuppe des gegenüberliegenden Hügels erreicht hatten. Die Spur verlor sich. Es gab keinen vorgezeichneten Weg durch den Wald, aber die Bäume standen so licht, daß das Durchkommen kein Problem gewesen wäre. Und dieser Waldrand war nicht menschenleer. Jemand war hier. Andrej spürte es so deutlich, als könne er ihn sehen.
Die Gestalt erschien wie aus dem Nichts, ein gewaltiger, goldschimmernder Riese, aus dessen Helm Hörner wuchsen und der mit einem gellenden Kampfschrei auf ihn losstürmte. Delãny riß sein Schwert aus dem Gürtel und wich gleichzeitig in einer komplizierten Dreh- und Rückwärtsbewegung vor dem Angreifer zurück.
Der gehörnte Dämon stürzte mit einem gellenden Schrei auf ihn zu. Sein Schwert, groß wie ein Mann, beidseitig geschliffen und sicherlich mehr als einen Zentner schwer, bewegte sich mit unfaßbarer Schnelligkeit, und Delãny wußte, daß es treffen würde; ebenso sicher und zuverlässig, wie er umgekehrt immer genau spürte, wenn er treffen würde. Die Klinge bewegte sich in tödlicher Präzision auf seine Kehle zu. Andrejs Sarazenenschwert zuckte hoch, aber er war nicht schnell genug; die Strecke, die die Klinge zurücklegen mußte, um das Schwert des Dämonenkriegers abzufangen, war einfach zu lang. Der Angreifer würde ihn enthaupten.
Sein Fuß verfing sich an einem Stein. Delãny kippte nach hinten, und der gewaltige Bihänder des Dämonenkriegers fügte ihm eine bis auf den Knochen reichende, heftig blutende Wunde an der Schläfe zu, statt ihm den Kopf abzuschlagen.
Andrej stürzte, rollte wimmernd vor Schmerz auf die Seite und kämpfte mit aller Gewalt gegen eine
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