Hola Chicas!: Auf dem Laufsteg meines Lebens (German Edition)
gewaltig eingeengt. Mir reichte es schon, dass ich mich dauernd selbst kontrollieren musste. In der Schule, auf der Straße, überall in der Öffentlichkeit – immer achtete ich darauf, mein zweites Ich nicht zu zeigen. Da wollte ich wenigsten zu Hause ich selbst sein.
Im Gegensatz zu meiner Tante Fela verwöhnten mich meine Mutter und meine Großmutter und förderten sogar meine Neigungen. Vor ihnen durfte ich die Ballerina spielen. Meine Oma wollte unbedingt, dass ich mich bei der Ballettkompanie von Alicia Alonso in Havanna vorstellte. Auch meine Mutter wünschte sich das, wollte aber meinem Vater nicht in den Rücken fallen. Der sagte nur, als er von meinem Traum erfuhr: »Jorge, hör zu, mein Sohn! Das geht nicht! Ich will keine Ballerina in der Familie. Ich will einen Arzt oder einen Baseballspieler.«
In Kuba herrschte damals der Machismo, der totale Männlichkeitswahn. Jeder Mann war ein Macho, auch mein Vater. In ihren Augen standen Männer, die mit Ballett zu tun hatten, automatisch in dem Ruf, verweichlicht und homosexuell zu sein. Ein Mann musste ständig seine Männlichkeit unter Beweis stellen. Im Kuba meiner Kindheit und Jugend war ein homosexueller Sohn deshalb das Schlimmste, was einem Vater passieren konnte. Ein Tabu! Oft hörte ich auf der Straße: »Lieber einen Kriminellen zum Sohn haben als einen maricón , eine Schwuchtel!«
Homosexualität wurde nicht geduldet, jeder Schwule generell diskriminiert. Die Gesellschaft sah Schwulsein als eine Krankheit an, die man bekämpfen musste. Das bedeutete im Klartext: Homosexuelle riskierten, ihren Studien- oder Arbeitsplatz zu verlieren und unter einem Vorwand ins Gefängnis zu kommen. Sie waren gefangen wie in einem Käfig, galten als Schande, und selbst ihre Familien und Freunde mussten ihretwegen Schikanen erdulden. Homosexuelle seien wie ein Virus, hieß es, sie wurden offen beschimpft und verfolgt – und hatten keine Chance. Lieber tot, als geoutet zu werden!
In unserem Ort lebten zwei Homosexuelle, von denen jeder wusste, dass sie schwul waren. Die Leute schikanierten die beiden, sobald sie ihnen auf der Straße begegneten, und riefen ihnen hinterher: »Hey, mamita ,« Hey, Süße! Eines Nachmittags, da war ich vielleicht sechs, spielte ich mit meinen drei Kumpels, meinem Bruder und dessen Freunden, die schon ein paar Jahre älter waren, in unserer Straße im Schatten eines großen Flammenbaums mit bolas , Murmeln. Da kam einer der beiden Schwulen vorbei. Mein Bruder und seine Freunde drückten uns Kleineren Steine in die Hand und sagten: »Hey, aufgepasst. Das ist ein pajarito , ein Vögelchen, eine Tunte. Den muss man töten.« Also liefen alle Kinder dem Mann hinterher, schrien im Chor: » Pajarito , Vögelchen …Tunte, Vögelchen … Tunte«, und warfen Steine nach ihm.
Ich werde diesen Moment nie in meinem Leben vergessen. Denn ich wusste ja, was ich tief in mir fühlte. Nein, das will ich nicht, schrie mein Innerstes, aber ich hatte zu viel Angst davor, was passieren würde, wenn meine Freunde, meine Familie, die Nachbarn mein zweites Ich entdeckten. Deshalb tat ich so, als würde ich meinen Stein werfen, ließ ihn jedoch in Wirklichkeit heimlich fallen. Noch heute überkommt mich eine tiefe Traurigkeit, wenn ich daran denke, dass ich nichts dagegen getan habe, nichts tun konnte. Ich hätte diese Schikane so gern gestoppt. Stattdessen machte ich mit – um mich selbst zu schützen, um zu verbergen, dass ich genauso war wie dieser Mann.
Als mein Vater entschied, dass ich nicht zu Alicia Alonso durfte, brach für mich eine Welt zusammen. Beim Tanzen war ich in meinem Element, konnte nicht nur meine Kreativität und meine künstlerische Ader ausleben, sondern auch meine Hüften und meinen ganzen Körper so bewegen, wie ich wollte. Wenn ich tanzte, war mein zweites Ich frei. Denn die Leute sahen in diesem Moment nur den guten Tänzer in mir und nicht den maricón , den pajarito , die Schwuchtel.
Wenn du ein Kind bist, verstehst du das alles noch nicht. Du weißt weder, was Homosexualität bedeutet, noch was Sozialismus oder Kapitalismus unterscheidet. Du hörst nur, wie jemand sagt: »Der Schwule gehört doch eingesperrt.« Oder: » Cuba sí, Yankees no «. Und wunderst dich. Denn du weißt ja nicht einmal genau, wo Amerika liegt. Wir lernten bloß, dass dort böse Menschen wohnten, aber wussten nicht, ob das auch wirklich stimmte. Die meisten Kinder wiederholten einfach, was die Größeren sagten.
Ich hatte eine schöne und idyllische
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